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# taz.de -- Historischer Experimentalfilm „Rey“: Die Körnung des Königlic…
> Der Film „Rey“ erzählt vom Scheitern eines französischen Kolonialisten.
> Und er macht den Mann zum Anwalt der indigenen Völker Lateinamerikas.
Bild: Träumt von einem Königreich, das es nie geben wird: Rodrigo Lisboa in d…
„Soy Rey.“ Ich bin König. Immer wieder geistert dieser Satz durch die
Bilder, punktiert das Gesehene und fordert es heraus. „Rey“ erzählt die
Geschichte eines kolonialen Wahns, einer Irrfahrt jenseits imperialer
Zentren, hin zu den Rändern der Welt. Im Jahr 1858 macht sich der
französische Anwalt Orélie-Antoine de Tounens (Rodrigo Lisboa) vom Périgord
aus auf die Reise nach Südamerika. Es zieht ihn nach Wallmapu, der
autonomen Region im Süden Chiles. Die Staatsmacht führt hier seit
Jahrzehnten erfolglos Krieg gegen die indigenen Mapuche. Tounens will diese
Völker im Kampf gegen den Kolonialismus vereinen, als Heiland, Retter und
selbsternannter König eines neuen Reichs. Warum? Seine Träume hätten ihm
das befohlen, sagt er.
All das basiert – so viel vorweg – auf einer wahren Geschichte. Laut
Wikipedia bleibe diese Gründung des Königreiches von Araukanien und
Patagonien bis heute eine der „skurrilsten Episoden der chilenischen
Geschichte“. Heute existiert das Königreich im französischen Exil und der
vermeintliche Titel des araukanischen Königs wird von Generation zu
Generation weitergegeben, zuletzt an einen Sozialarbeiter.
Eine historistische Nacherzählung ist Niles Attalahs Film allerdings nicht.
Vielmehr versucht „Rey“ mit experimentellen Mitteln dem Wesen menschlicher
Hybris nahezukommen. Es ist ein Werk voll ausgewaschener Körnung, ein
Granulat analoger Filmtechniken. Marmorierte Tableaus, zerkratztes
Filmmaterial und kinematografisches Super-8-Rorschach wechseln sich ab. Mit
dieser immer wieder gebrochenen und gerade dadurch hoch ästhetischen
Visualität versucht Attalah, dem fließenden Wahnsinn seines Protagonisten
eine Form zu geben.
Tounens’ Reise wird nicht chronologisch erzählt, eigentlich steht sogar das
Ende am Anfang: Der selbsternannte Entdecker ist eingekerkert, sein Gesicht
mit einer fratzenhaften Maske überdeckt. Gemartert und ausgezehrt sieht
sich Tounens chilenischen Generälen und Richtern gegenüber, die ihm wegen
Spionage den Prozess machen. Sein einheimischer Führer Rosales (Claudio
Riveros) steht als Zeuge im Gerichtsstand und sagt gegen Tounens aus:
„Dieser Franzose war ein mysteriöser Mann. Aber ich mochte ihn.“
Während der Verhandlung blickt „Rey“ immer wieder zurück und rekonstruiert
die Reise von Tounens und Rosales in fast arkadischen Bildern. Langsam
lernen sie sich bei langen Abenden am Lagerfeuer kennen, oft schweigen sich
die Männer an, sie wissen noch nicht, dass sich ihre Motive entgegenstehen.
Rosales ist ein strammer, aber humanistischer Patriot. Tounens träumt von
seinem araukanischen Königreich, das er Chile abtrotzen will. Als Tounens
schließlich den Fluss Bio Bio überqueren will, der Chile von Araukanien
trennt, dämmert Rosales langsam, dass es der Franzose mit seinem Königreich
tatsächlich ernst zu meinen scheint. Über Nacht lässt er Tounens verhaften.
Mit seinem innersten Thema geht der Film von Beginn an sehr behutsam um. Es
geht um das Scheitern, um das Zerplatzen von Träumen, die Auslöschung eines
Gedankens, bevor er auch nur zu einem fernen Leuchten am Horizont wird.
„Rey“ ist keine Reise ins Herz der kolonialen Finsternis, sondern bild- und
tongewordener Verfall. Der analoge Look, die verzerrten Voiceovers, alle
Zeichen stehen auf Niedergang. Tounens ist dabei Inbegriff des absurden
Sisyphus, ein Träumer, dem sein eigenes Leben entgeht, da er dessen Sinn
fiktionalisiert.
Niemals wird sein Königreich Realität sein, aber der Traum, der Wunsch und
die Überzeugung sind doch real. Dafür plädiert „Rey“ mit seiner von der
Zeit zersetzten Bildsprache und schafft ganz nebenbei ein sehr lebendiges
Sinnbild für die Kraft des Kinos.
Die Intelligenz von Attalahs Film liegt aber auch darin, wie der
chilenisch-kalifornische Regisseur die verschiedenen Aspekte des
Kolonialismus ausbalanciert. Denn „Rey“ ist nicht ethnozentristisch, obwohl
der weiße Europäer Tounens und seine Gedankenwelt im Mittelpunkt stehen.
Doch Attalah schichtet Legende auf Legende und fabuliert sich in ein
gänzlich offenes Werk, das ethnische Fixierung unmöglich macht. Die so
legendären araukanischen Stammesführer zum Beispiel, deren König Tounens ja
werden will, kommen im Film gar nicht vor, werden schlicht nicht abgebildet
außer in Form sprechenden Mooses. Die indigenen Mapuche hingegen begegnen
Tounens und Rosales mit einer seltsam wissenden Rätselhaftigkeit.
## Indigener Jesus
Ganz zum Schluss des Films lässt eine Einblendung wissen, dass die
Arakaunier und andere indigene Völker bis heute vom chilenischen Staat
unterdrückt werden, während Tounens als völlig verarmter Mann in seiner
Heimatstadt starb. So wird der Kolonisator Tounens unversehens zum
indigenen Jesus, zum Fürsprecher der unterdrückten Völker. Die chilenische
Staatsmacht wird hingegen nur in Form von maskierten Puppen dargestellt,
austauschbaren Organen der Gleichförmigkeit. Mit Hohn blicken die Richter
und Staatsanwälte auf den Franzosen, verspotten ihn als Provinzler.
Fraglos ist Tounens bei Lichte besehen ein Verrückter, ein erschreckend
zeitgemäßer Aussteiger avant la lettre. Er trinkt in seinen Träumen den
Morgentau der araukanischen Moosskulpturen und fantasiert sich zu einer
Naturgottheit. „Wie Adam kam ich, um eine neue Rasse zu gründen.“ Attalah
verschaltet diese Monologe mit verfremdetem Archivmaterial voller
faschistischer Bildsprache und zeigt den fanatischen Tounens bei seiner
ersten Rede als König.
Und trotzdem gibt es ein Mitgefühl für diesen Mann, für diesen Vergessenen
der Geschichte, der sein Königreich schon begraben musste, bevor er es
überhaupt aufgebaut hatte. Vielleicht passt jener Ausspruch des Philosophen
Walter Benjamin, der zu seiner Grabinschrift geworden ist: „Es ist niemals
ein Dokument der Kultur, ohne eines der Barbarei zu sein.“
## Kluge Reflexion über Geschichte
„Rey“ ist nicht nur eine kluge Reflexion über Geschichte und
Geschichtlichkeit, sondern zeigt auch die widersprüchliche Verschlungenheit
des menschlichen Wesens, seinen Drang zu fester Ordnung und Orientierung,
den die Verlierer jedes Mal mit Gewalt zu bezahlen haben. Insofern erzählt
„Rey“ die Geschichte Chiles in multiplen Versionen neu, und zwar aus der
Perspektive einer Vielheit von Vergessenen.
Vergleiche zu ziehen, fällt angesichts eines derart experimentellen,
originell forschenden Films wie „Rey“ schwer. Doch Christian Krachts Roman
„Imperium“ erzählt eine ganz ähnliche Geschichte, und zwar die des
Deutschen August Engelhardt, der sich in Papua-Neuguinea zum Herrscher
einer Zivilisation der Kokosnuss aufschwang, schließlich zum Despoten wurde
und ebenso grandios scheiterte.
Und ja, auch Werner Herzogs „Aguirre“, in dem Klaus Kinski als cholerischer
Konquistador durch den Dschungel des Amazon irrlichtern durfte, hat eine
ähnliche Thematik. Doch er ist insofern ein Gegenbild, als Herzogs
quasidokumentarischer Stil nichts mit der hochartifiziellen Collage von
„Rey“ gemein hat.
3 Jan 2019
## AUTOREN
Johannes Bluth
## TAGS
Spielfilm
Rey
Niles Attallah
Wallmapu
Thriller
Horrorfilm
Coming-of-Age-Film
Spielfilm
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