| # taz.de -- Tragikomödie „The Five Devils“ im Kino: Schönheit im Sinn | |
| > In Léa Mysius’ Mystery-Drama „The Five Devils“ kann ein Mädchen über | |
| > Gerüche in die Vergangenheit eintauchen. Vieles bleibt angenehm im | |
| > Ungefähren. | |
| Bild: Die junge Vicky (Sally Dramé) hat eine ausgeprägte Spürnase | |
| Noch vor dem Sehen kommt das Hören: Mit durchdringendem Geschrei und | |
| furioser Streichermusik beginnt [1][Léa Mysius („Ava“)] ihren zweiten | |
| Spielfilm als Regisseurin. Erst danach lodert ein Flammenmeer über die | |
| Leinwand. Vor ihm stehen mehrere junge Frauen in mit silbernen Pailletten | |
| besetzten Turnkostümen. Eine hat ihr Gesicht vom Feuer abgewandt, mit | |
| fassungslosem Ausdruck blickt sie direkt in die Kamera. | |
| „The Five Devils“ eröffnet mit dem Wendepunkt der dramatischen Geschichte, | |
| die der Film nur peu à peu ausbreitet. Bevor sich erschließt, was in der | |
| Schlüsselsequenz vor sich geht, wird sich das verschachtelte Mystery-Drama | |
| zumindest in mittelbarer Form aller Sinne bedienen, die dem Menschen zur | |
| Verfügung stehen, um wahrzunehmen, aufzudecken und womöglich zu erkennen. | |
| Zweifelsohne ist es der Geruchssinn, der in dieser durchdachten Reflexion | |
| über die Last, die Erinnerungen darstellen können, von größter Bedeutung | |
| ist. | |
| Der besondere Status, den das Drehbuch, das Mysius gemeinsam mit Paul | |
| Guilhaume verfasste, dem Riechvermögen zuerkennt, ist durchaus | |
| einleuchtend: Wer durch die Wahrnehmung eines Parfums schon einmal an eine | |
| bestimmte Person denken musste, sich durch einen spezifischen Duft | |
| schlagartig einer spezifischen Situation entsann oder an einen Ort | |
| zurückversetzt fühlte, weiß um die besonderen Kräfte des olfaktorischen | |
| Sinns. | |
| In der Figur der etwa zehnjährigen Vicky (Sally Dramé) erhöht der Film | |
| diese Kraft. Das Mädchen kann Gerüche nicht nur äußerst genau bestimmen. | |
| Als Schwarzes Kind mit Afrofrisur wird sie in einer Kleinstadt am Fuß der | |
| französischen Alpen von Gleichaltrigen ausgegrenzt und verbringt ihre Zeit | |
| stattdessen damit, in unzähligen beschrifteten Einmachgläsern Substanzen | |
| zusammenzumischen. Etwa um den Duft ihrer Mutter Joanne (Adèle | |
| Exarchopoulos) genau nachzubilden. | |
| ## Einem Familiengeheimnis auf der Spur | |
| Joanne, besagte Frau aus der Auftaktsequenz, arbeitet als Schwimmtrainerin | |
| und führt ansonsten ein zurückgezogenes Leben an der Seite ihres Ehemannes | |
| Jimmy (Moustapha Mbengue). Die Beziehung wirkt seltsam zweckmäßig, | |
| Zärtlichkeiten tauscht das Paar nicht aus. Als Jimmys jüngere Schwester | |
| Julia (Swala Emati) – die im Gegensatz zu ihm nicht im Senegal, sondern in | |
| Frankreich geboren wurde – bei der Familie unterkommt, reagiert Joanne | |
| äußert empfindlich. | |
| Auch Vicky, die ihre Tante bislang noch nicht kannte, ist ihr gegenüber | |
| sehr skeptisch. Als sie ihre Sachen durchsucht, stößt sie auf ein | |
| undurchsichtiges Fläschchen, erschrickt über seinen Geruch und verwendet es | |
| schließlich, um Julias Duft anzumischen. Daraufhin setzt sich das | |
| wesentliche Enigma der Handlung in Gang: Vicky taucht über das Riechen an | |
| jener Mischung offenbar in die Vergangenheit ein. So sieht sie ihre Tante | |
| gemeinsam mit ihrer Mutter beim Turnunterricht. Später bei einem | |
| gemeinsamen Ausflug mit Joannes Freundin Nadine (Daphné Patakia) und Jimmy. | |
| Von hier an nimmt „The Five Devils“ verstärkt Züge eines Psychothrillers | |
| an, denn auch das wird bald klar: Julia sieht Vicky in jenen Flashbacks | |
| zwar ebenfalls, kann sich die Anwesenheit des ihr damals noch unbekannten | |
| jungen Mädchens aber nicht erklären und verfällt über ihren Anblick in | |
| Panik. Anders als es der Titel, der überraschend schlicht von fünf | |
| benachbarten Berggipfeln herstammt, vermuten lässt, ist der Film zwar mit | |
| dem Schatten des Unerklärlichen durchwoben. In Horrorgefilde gleitet er | |
| allerdings niemals ab. | |
| Stattdessen entwirrt er durch Vickys Augen allmählich eine komplexe | |
| Familiendynamik, tastet sich nur nach und nach an ein großes Geheimnis | |
| heran. Den Fehler, das Sublime durch das Triviale – etwa durch eine | |
| letztgültige Erklärung, wie die Zeitreisen funktionieren – zu verderben, | |
| begehen Mysius und Guilhaume dabei glücklicherweise nicht. | |
| ## Lauernde Kamera | |
| „The Five Devils“ gelingt es, dem Dunklen sein Dasein zu gönnen, das | |
| Sphärische von Poesie aufrechtzuerhalten und gleichsam eine sehr weltliche | |
| Erzählung zu transportieren. Vor allem die lauernde Kamera (ebenfalls | |
| Guilhaume) schafft es in ansprechend konstrast- und farbenreichen Bildern, | |
| niemals zu viel auf einmal preiszugeben. | |
| Mal verharrt sie lange in einer Einstellung, die nicht mehr als zwei | |
| vorsichtig umeinander tänzelnde Hände unter einem Tisch zeigt und rätseln | |
| lässt, um wessen es sich nun genau handelt. Mal schlängelt sie sich | |
| schleppend durch das Wohnzimmer an Vicky heran, um zu offenbaren, dass sie | |
| auf ihrem Handy nach dem Wort „Pyromanie“ sucht. | |
| Dass man diesem Mysterium mit großem Vergnügen folgt, ist auch den | |
| beeindruckenden schauspielerischen Leistungen zu verdanken. Die 2010 | |
| geborene Sally Dramé erweist sich qua ihres außergewöhnlichen Charismas als | |
| echte Entdeckung, während es Adèle Exarchopoulos wie gewohnt gelingt, mit | |
| ausdrucksstarker, aber nuancierter Mimik die komplexen Gefühlsregungen | |
| ihrer Figur zu erkennen zu geben. | |
| Vor dem Hintergrund eines unversehens abwechslungsreichen [2][Soundtracks, | |
| auf dem sich sowohl] „Me and the Devil“ der österreichischen Musikerin | |
| Soap&Skin als auch Bonnie Tylers „Total Eclipse of the Heart“ wiederfinden, | |
| führt nach dem Herantasten über das Hören, Sehen, Riechen und Fühlen | |
| schließlich ausgerechnet der Geschmackssinn zu einer Katharsis. Auch wenn | |
| vieles im Ungefähren bleibt, kann man sich am Ende von „The Five Devils“ | |
| doch sicher sein: Schön ist nicht nur, wie präsentiert wird, sondern auch | |
| was. | |
| 13 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Arabella Wintermayr | |
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