# taz.de -- Regisseur über Film „Der Gymnasiast“: „Man gibt viel von sic… | |
> Der französische Regisseur Christophe Honoré arbeitet zwischen Kino und | |
> Theater. Sein Film „Der Gymnasiast“ erzählt die eigene | |
> Coming-out-Geschichte. | |
Bild: Hat bei Gefühlen noch einiges zu lernen: Lucas (Paul Kircher), die Haupt… | |
Er hat mit den Größen des französischen Kinos gearbeitet: Deneuve, Garrel, | |
Duris, Mastroianni: der 52-jährige Christophe Honoré, der sich lange Zeit | |
als Epigone der Nouvelle Vague einen Namen gemacht hat und in den letzten | |
Jahren mit deutlich autobiografisch geprägten Filmen ein neues Kapitel in | |
seinem Œuvre aufgeschlagen hat. In seinem neuen Film, „Der Gymnasiast“, | |
spielt selbst die große Juliette Binoche neben Hauptdarsteller Paul | |
Kircher, Newcomer und Alter Ego des Regisseurs, nur eine Nebenrolle. | |
taz: Herr Honoré, Sie arbeiten in den unterschiedlichsten Sparten, haben | |
Romane geschrieben, auf der Bühne Theaterstücke und Opern inszeniert und | |
natürlich Filme gedreht. Bevorzugen Sie die eine oder andere Form? | |
Christophe Honoré: Ich habe nicht wirklich eine Präferenz, doch Kino ist | |
das Medium, das schon seit meiner Jugend ein Traum gewesen ist. Dass ich | |
nun die Möglichkeit habe, Filme zu drehen, ist tatsächlich so etwas wie ein | |
Traum, der wahr geworden ist. Aber ich muss sagen, dass ich mich im | |
Vergleich auf einem Theaterset etwas sicherer fühle, wobei sicher nicht | |
ganz das treffende Wort ist. Es ist „weicher“, während das Filmemachen in | |
den letzten Jahren zu einer Art Kampfsport geworden ist. | |
Inwiefern? | |
Es hat in erster Linie mit den Abläufen und der Organisation zu tun: Am | |
Theater arbeitet man zwar auch auf der einen Seite mit Geldgebern, auf der | |
anderen mit Schauspielern. Aber es besteht ein runder, intensiver, | |
menschlicher Austausch. Das Kino, selbst das Autorenkino, ist dagegen von | |
zunehmend extremen finanziellen Zwängen und Belastungen geprägt. Das macht | |
die Arbeit anstrengender. | |
Wenn Sie Geschichten entwickeln, wie entscheiden Sie, welche in diesem oder | |
jenem Medium erzählen? | |
Das ist ein organischer Prozess. Das Projekt, an dem ich vor „Der | |
Gymnasiast“ gearbeitet habe, war das Theaterstück „Le Ciel de Nantes“, d… | |
ebenfalls autobiografische Züge trug, allerdings eher in Bezug auf meine | |
Mutter. Im Grunde genommen ist es immer dasselbe Material, das ich | |
bearbeite, egal, ob im Kino oder im Theater. Als ich damit begann, die | |
Formen zu wechseln, hatte ich oft das Gefühl, dass ich ein eher unsauberer | |
Filmemacher bin, dass ich nicht so richtig dahin gehöre, weil ich so viele | |
andere Dinge mache, man könnte fast sagen: Ich habe mich in gewisser Weise | |
als Dilettant gefühlt. | |
Nun haben Sie in den letzten Jahren in etwas gearbeitet, das man als | |
Cluster bezeichnen könnte: In zeitlicher Nähe zum Film „Der Gymnasiast“ | |
entstand etwa der Fernsehfilm „Guermantes“ und das Stück „Le Ciel de | |
Nantes“, eine Art thematisches Triptychon. | |
Nun, man wirkt schnell eitel, wenn man Arbeiten als Teil eines Triptychons | |
bezeichnet. Aber es ist sicherlich richtig, dass ich in den letzten drei | |
Projekten auf unterschiedliche Weise autobiografische Aspekte verarbeitet | |
habe. „Guermantes“ habe ich während der Pandemie geschrieben, während man | |
sozusagen eingesperrt war, dort stand ich selbst als Schauspieler vor der | |
Kamera. In „Le Ciel de Nantes“ gibt es ebenfalls autobiografische Bezüge, | |
jetzt das Porträt eines Jugendlichen, der ich selber einmal war. Insofern | |
ist es sicherlich richtig, hier von einem Triptychon autobiografisch | |
orientierter Arbeiten zu sprechen. Wobei ich den Begriff „Selbstbildnis“ | |
(A. d. R.: im Französischen treffender „l’autoportrait“) dem der | |
Autobiografie vorziehe. Da bin ich nahe bei Proust, mit dem ich mich in den | |
letzten Jahren intensiv auseinandergesetzt habe, insbesondere die letzten | |
beiden Projekte gehen in diese Richtung, sich [1][im Proust’schen Sinne auf | |
die Suche nach einer verlorenen Ze]it zu machen. | |
Ich wollte gerade selbst nach Marcel Proust fragen, ein Autor, der Sie | |
sicher schon lange beschäftigt hat, dessen Art des autofiktionalen | |
Schreibens zwei Ihrer neueren [2][Filme, „Sorry Angel“] und jetzt „Der | |
Gymnasiast“, ziemlich stark beeinflusst zu haben scheint. | |
In den letzten Jahren war Proust in gewisser Weise mein Mitbewohner. Nun | |
ist es bei Proust ja so, dass man ihn nicht nur intensiv liest, tief in die | |
Lektüre eintaucht, sondern gleichzeitig auch in die Unmöglichkeit, ihn zu | |
verstehen. Bei der Lektüre gerät man immer wieder an einen Punkt, an dem | |
man glaubt, etwas verstanden zu haben, nur um zu realisieren, dass man es | |
vielleicht doch nicht ganz verstanden hat. | |
Die beiden angesprochen Filme erscheinen mir deutlich literarischer, wenn | |
man das so nennen kann, weniger dramatisch zugespitzt als frühere Filme. | |
Ja, die Erzählweise hat eher etwas von einer Chronik, was damit zu tun hat, | |
dass der Stoff intimer ist und in dem Sinne etwas gefährlicher, etwas | |
heikler. Es war mir ein Anliegen, loyal über meine Erfahrungen und | |
Erlebnisse zu erzählen. Ich will sie nicht beschönigen oder aufweichen, | |
sondern aufrichtig sein. Aber um diese Wahrhaftigkeit hinzubekommen, kann | |
man keine buchstäbliche Wiedergabe wählen, man muss verklausuliert | |
erzählen, nicht eins zu eins die Realität nachbilden, sondern über den | |
Umweg der Stilisierung. | |
Ist dieser Wunsch nach stilistischer Überhöhung auch ein Grund, weswegen | |
Sie den Begriff Autoporträt bevorzugen? | |
Ja, das erklärt sich daraus, dass ich Reflexe möchte, Widerspiegelungen. | |
Ich weiß nicht, wie das in Deutschland ist, aber in Frankreich werden wir | |
zugeschüttet mit Autobiografien, die oft kaum mehr sind als Nabelschauen, | |
es ist eine Art Selbstbeweihräucherung. Was mir dagegen vorschwebt, ist der | |
Versuch, weniger explizit autobiografisch zu sein, sondern | |
verklausulierter. Man gibt zwar viel von sich preis, stellt sich aber nicht | |
zur Schau. | |
Haben Sie daher die Handlung, die sich Ende der 80er Jahre zugetragen hat, | |
in die Gegenwart verlegt? | |
Das war eine wichtige, ganz bewusste Entscheidung. Ich wollte zum einen dem | |
Jungen von damals treu bleiben, aber gleichzeitig nicht nostalgisch werden. | |
Ich wollte den Konflikt zeigen zwischen dem Jugendlichen, der ich damals | |
war, und dem Menschen, der ich heute bin, der natürlich kein Jugendlicher | |
mehr ist. Den zeitlichen Bezug zwischen diesen beiden Dimensionen fand ich | |
sehr spannend, denn trotz mancher aktueller Bezüge, der Corona-Masken etwa | |
oder dass die Präsidentschaftswahl erwähnt wird, ist der Film schwer | |
zeitlich zu datieren. | |
War dieses zeitliche Verschieben auch wichtig, um eine moderne schwule | |
Geschichte erzählen zu können? Modern in dem Sinne, dass die Hauptfigur in | |
diesem Film in einer fast bukolischen Welt aufwächst: Sein Umfeld | |
akzeptiert seine Homosexualität völlig, es gibt keine Homophobie. Ich würde | |
vermuten, dass die Situation für junge Schwule in Frankreich Ende der 80er | |
Jahre deutlich schwieriger war. | |
Es hat mich nicht interessiert, eine typische Coming-out-Geschichte zu | |
erzählen. Als ich 17 war, habe ich meine Homosexualität natürlich ganz | |
anders erlebt, als Gleichaltrige das heute erleben. Aber ich fand es | |
interessanter, von einem zeitgenössischen Jugendlichen zu erzählen als von | |
einem Jugendlichen Ende der 80er Jahre. Der Protagonist des Films sagt ja | |
einmal: „Ich erzähle die Geschichte meiner Schande.“ Es war mir wichtig, | |
dass diese Schande nicht mit der Frage der Homosexualität der Figur | |
verknüpft ist, sondern mit anderen Aspekten. In fast allen Lebensbereichen | |
ist die Figur inkompetent, er kann nicht mit seinen Gefühlen umgehen, mit | |
seiner Familie, mit seinem Schmerz. Das einzige Gebiet, auf dem er | |
sozusagen kompetent ist, ist seine Begierde, er weiß, wie er seine | |
sexuellen Bedürfnisse befriedigen kann, alles andere muss er lernen. | |
29 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Michael Meyns | |
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