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# taz.de -- Helene Hegemanns Roman „Striker“: Junge Frau mit Großstadtneur…
> In Helene Hegemanns neuem Roman „Striker“ entwickelt eine Kampfsportlerin
> eine Art Angststörung. Doch vor allem geht es um ein zeittypisches
> Grundgefühl.
Bild: Neurotisch wird, wer ständig ungefragt mit dieser existenziellen Unsiche…
Nichts im Leben ist sicher. Im Prinzip weiß jeder Mensch das, doch
normalerweise wird dieses Wissen erfolgreich verdrängt. Allerdings gibt es
Orte, die uns ständig ungefragt mit dieser existenziellen Unsicherheit
konfrontieren: an erster Stelle die Großstadt, weil dort auf engem Raum
extreme, auch extrem prekäre Formen menschlichen Daseins
aufeinandertreffen.
Das ist der inhaltliche Rahmen von „Striker“, [1][Helene Hegemanns] neuem
Roman. Handlungsort ist Berlin. N, die weibliche Hauptfigur, hat sich eine
wirksame Form der Vorabverteidigung gegen potenzielle Bedrohungen der
Außenwelt zugelegt: Sie betreibt intensiv Kampfsport. Die Aussicht, beim
nächsten Boxwettkampf einer gefürchteten Konkurrentin zu begegnen, gegen
die sie schon einmal verloren hat, stresst N allerdings gewaltig.
Ihre nervliche Belastung nimmt weiter zu, als sich im Flur vor ihrer
Wohnung eine obdachlose junge Frau einnistet. Aus Ns spontaner
Hilfsbereitschaft wird Ablehnung und Misstrauen, als diese Frau, Ivy, sich
nicht nur als allzu anhänglich erweist, sondern auch eindeutig psychisch
instabil wirkt.
Ihre eigene äußere Ähnlichkeit mit ihr verunsichert N stark; sie beginnt an
ihrem Verstand zu zweifeln und traut sich zwischendurch nicht mehr, in
ihrer Wohnung in einem touristischen Partyviertel zu übernachten. Zum Glück
kann sie zeitweise bei einer Politikerin unterschlüpfen, mit der N eine
sexuelle Beziehung unterhält.
## Mehrdeutiger Titel
Der Romantitel ist mehrdeutig. Zum einen kann er auf N selbst bezogen
werden, zum anderen agiert unter dem Namen „Striker“ ein Graffitikünstler,
der persönlich nie auftaucht, aber in Ns Bewusstsein Spuren hinterlässt, da
er auf die Brandmauer gegenüber ihrem Fenster unverständliche Zeichen
sprüht, die N nachhaltig beunruhigen.
Viele Elemente im Roman haben eine wenig subtile Zeichenfunktion,
angefangen bei Ivys Namen (selbsthaftende Kletterpflanze) über Strikers
menetekelhaftes „writing on the wall“ bis hin zu den
Einrichtungsgegenständen, die N während schlafloser Nächte im Internet
kauft. Von diesen trägt jedenfalls keins dazu bei, ihre Wohnung zu einem
gefühlt sicheren Refugium zu machen. Vor allem an dem großen Spiegel wird
(ziemlich penetrant) zeichenhaft die drohende Auflösung von Ns
Persönlichkeit reflektiert.
Doch so weit wird es nicht kommen, und das ist auch gar nicht nötig, weil
es um N eigentlich nicht wirklich geht. Obwohl der Roman aus ihrer
Perspektive erzählt, bleibt eine Identifizierung mit N aus, weil sie als
Charakter nicht greifbar ist. Diese junge Frau mit Großstadtneurose ist
eine Stellvertreterin; in ihr umschreibt der Roman ein Phänomen, ein
eventuell zeittypisches Grundgefühl, an das man lesend andocken soll.
## Jedes Leben ist fragil
Für die Individualität der Figuren interessiert die Autorin sich nur
insoweit, als jede Person einen Beitrag zum Gesamtbild darstellt. Das ist
konsequent und ziemlich grundsätzlich umgesetzt, und dazu gehört, dass auch
die Nebenfiguren sich als ebenso den Unsicherheiten des Daseins ausgesetzt
zeigen wie N.
„Die Politikerin“ etwa, die nur mit ihrer Berufsbezeichnung benannt wird,
bekommt bei Reisen in Kriegsgebiete furchtbare Dinge zu sehen und hat
seltsam kaltherzige Strategien entwickelt, diese Erfahrungen zu verdrängen.
Ihre langjährige Beziehung zu N ist trotz körperlicher Nähe lediglich
beiläufigen Charakters.
Jedes Leben, so versteht man, ist fragil, jede Person ist mit ihren
Problemen ziemlich allein. In sich ist es ein schlüssiges Gesamtbild, das
die Autorin zeichnet; aber genau darin liegt auch ein grundsätzliches
Problem. Der unbedingte Wille, zeitdiagnostischen Mehrwert zu generieren,
ist dem Roman so stark eingeschrieben, dass der Lektüre jede Möglichkeit
zur eigenwilligen Interpretation, jedes spielerische Element entzogen wird.
Dem deprimierenden Bedrohungspotenzial ist nicht zu entrinnen. Doch
immerhin kann nicht völlig ausgeschlossen werden, dass die enigmatischen
Zeichen, die „Striker“ auf Wände malt, eine geheime Botschaft der Hoffnung
enthalten. Dass N nicht imstande ist, sie in dieser Weise zu lesen, sollte
schließlich nicht unser aller Problem sein.
28 Mar 2025
## LINKS
[1] /Neues-Buch-von-Helene-Hegemann/!5857734
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025
Berlin
Großstadt
Kampfsport
deutsche Literatur
RBB
Literatur
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