# taz.de -- Neue RBB-Literatursendung „Longreads“: Einfach mal locker bleib… | |
> Jugendliche gucken statt Literatursendungen lieber Tiktoks über Bücher | |
> und alteingesessene Kritiker*innen sind sauer. Kann „Longreads“ | |
> vermitteln? | |
Bild: Helene Hegemann schafft es, ernsthaft über Literatur zu sprechen, ohne e… | |
Sophie Passmann spaziert über ein Dach und spricht über Menschen, die | |
Bücher in riesigen Regalen horten, nur damit auf Partys jemand zu ihnen | |
sagt, dass sie genau dieses oder jenes Buch auch bald lesen werden – und | |
natürlich hat niemand von ihnen jemals irgendwas gelesen. | |
Diese Polemik ist im März 2023 der Beginn der Literatursendung [1][„Studio | |
Orange“], produziert vom RBB. Passman, Autorin von populären Sachbüchern | |
über Feminismus, ist die Moderatorin. Sie begrüßt nach ihrem Monolog die | |
beiden Gäste, die Schriftstellerin [2][Helene Hegemann] und den | |
Schauspieler Dimitrij Schaad. Wein steht auf dem Tisch, sie reißt Witze. | |
Dann sagt sie einen Satz, den ihr viele übel nehmen werden: „Ich habe hier | |
zwei Flaschen Wein – wenn einer von uns das Wort Intertextualität sagt, | |
trinken wir die aus und gehen nach Hause […], weil dann haben wir alles | |
nicht geschafft, was wir schaffen wollen, nämlich über Bücher reden, als | |
wären wir normale Leute.“ | |
## Literaturkritik muss Literatur schon ernstnehmen | |
Normale Leute? Spielen die etwa mit Playmobil-Figuren Plots von Büchern | |
nach, wie es im Laufe der Sendung passiert? „Studio Orange“ scheiterte auch | |
deswegen, weil Passmann bei all dem Trara, bloß nicht elitär zu werden, | |
vergaß, worum es eigentlich ging: Literatur. Eine Literatursendung, die | |
Literatur nicht ernst nimmt, braucht es nun wirklich nicht. Nach drei | |
Folgen war Schluss und es stellte sich die Frage: Ist ein junges | |
öffentlich-rechtliches Literaturformat überhaupt möglich? | |
Es gibt ja schon „Druckfrisch“ (ARD) mit Denis Scheck und das | |
[3][„Literarische Quartett“ (ZDF) mit Thea Dorn], die beiden großen | |
Dinosaurier im deutschen Fernsehen. Trotz der Onkelig- beziehungsweise | |
Tantigkeit des Personals aus dem das Bürgertum nur so trieft, sind es doch | |
hochwertig produzierte und immer wieder anregende Formate, die ihren | |
Gegenstand würdigen anstatt sich in ironische Distanz zu ihm zu begeben. | |
Nur die Auswahl der besprochenen Bücher ist oft an die Lesegewohnheiten | |
einer älteren Zielgruppe angepasst. Auch die Hybris von | |
Literaturkritiker*innen im Fernsehen oder Radio kann sehr | |
anstrengend sein. | |
Gerade erschien bei Deutschlandfunk Kultur ein Kommentar der Kritikerin | |
Sigrid Löffler mit dem Titel „Warum die Literaturkritik in der Krise | |
steckt“. Die Literaturkritik habe, sagt sie, an Autorität eingebüßt und | |
unerwünschte Konkurrenz „in Form des allgegenwärtigen elektronischen | |
Geschnatters“ bekommen. Löffler stört, dass „Amateure – Blogger, | |
Influencer, selbstermächtigte Hobby-Kritiker –, die Welt mit ihren | |
subjektiven Geschmacksurteilen über Bücher behelligen“. | |
## Von oben herab | |
Das ist sie wahrscheinlich, die Von-oben-herab-Haltung, die Passmann | |
aufregte. Löffler vergisst, dass es gerade im öffentlich-rechtlichen Radio | |
täglich unzählige Buchrezensionen auf hohem Niveau gibt, aber keine | |
Vermittlungsversuche für ein jüngeres Publikum. Das geht lieber zu Tiktok. | |
Dass es durch [4][BookTok] gerade einen neuen Literaturhype unter jungen | |
Erwachsenen und Jugendlichen gibt, an den sich auch Verlage anpassen, | |
sparen diese Kritiker*innen weitestgehend aus. Wahrscheinlich auch | |
deswegen, weil es sich bei Büchern, die durch TikTok populär werden und | |
dort von Leser*innen diskutiert werden, meistens um Genre-Literatur wie | |
Fantasy handelt. Die wird traditionell von der Literaturkritik kaum | |
thematisiert, weil sie als anspruchslos galt. Oft stimmt das vermutlich | |
sogar. | |
Aber: Durch den neuen Bücher-Hype auf Social Media reifen eben auch | |
Hunderttausende neue Leser*innen heran, von denen einige früher oder | |
später über den Tellerand schauen wollen. Und die galt es, auch im Sinne | |
des öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrags, abzuholen. Doch sogar das | |
Instagram-Format „Stories“ vom öffentlich-rechtlichen Jugendnetzwerk funk, | |
das den Versuch wagte, Literaturkritik in verknappte Videos zu packen, also | |
einen Mittelweg zwischen Löffler und TikTok ging, wurde 2019 schnell wieder | |
eingestellt. Ist die Situation also ausweglos? | |
Helene Hegemann steht mit dem Autor und Investigativjournalisten Thilo | |
Mischke in der Buchhandlung seiner Eltern und spricht über das Kinderbuch | |
„Bei der Feuerwehr wird der Kaffee kalt“. Es ist eine der ersten Szenen der | |
ersten Folge von [5][„Longreads“, einer neuen, vom RBB produzierten | |
Literatursendung]. Hegemann will hier mit jeweils einem Gast über Bücher | |
sprechen, „ganz egal, was für welche, Hauptsache, sie sind gut und handeln | |
von einem Thema, das uns irgendwie beschäftigt“, wie sie es formuliert. | |
## Sprechposition nicht überhöhen | |
Die erste Folge lebt dabei von der Unmittelbarkeit der Dialoge und Szenen | |
und ihrer dynamischen Ortswechsel. Die Aufmachung erinnert an Artes | |
legendäre [6][„Durch die Nacht mit …“-Serie]. Der Sound ist durchdacht, … | |
Setting entschleunigt, was auch daran liegt, dass Hegemann sich nicht zu | |
sehr in den Vordergrund drängt. Sie hält die Gespräche am Laufen und | |
fungiert als Stichwortgeberin, wie auch die besprochenen Bücher selbst. | |
Die große Leistung bei „Longreads“ ist es, Literatur ernst zu nehmen, aber | |
die eigene Sprechposition dabei nicht zu überhöhen und dadurch nie ins | |
didaktische abzudriften. Die Sendung lässt Raum für große Themen, vom | |
Gespräch über das Erstarken der AFD in Ostdeutschland mit Mischke bis hin | |
zum Holocaust mit [7][Samira El Ouassil], dem Gast der zweiten Folge, die | |
die Graphic Novel „Maus“ mitbrachte. Darin wird die Lebensgeschichte des | |
polnischen Juden Wladek Spiegelman verarbeitet. | |
Natürlich geht es bei „Longreads“ oft auch um Geschmack und um Emotionen. | |
Wenn Thilo Mischke davon erzählt, dass er bei einer Szene von Emmanuel | |
Carrères „V13: Die Terroranschläge in Paris“ fast weinen musste, dann ist | |
das zwar jene Subjektivität, die Sigrid Löffler so stört, aber im Verlauf | |
des Gesprächs wird klar, warum Mischke das Buch tatsächlich mag. Der | |
subjektive Zugang funktioniert hier nur als Einstiegshilfe. | |
„Longreads“ wiederum könnte eine Einstiegshilfe für junge Menschen sein, | |
die merken, wie spannend Lesen und die anschließende Diskussion über Bücher | |
sein kann. Und dass Begriffe wie Intertextualität in solchen Diskussionen | |
ziemlich hilfreich sein können. | |
26 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] /RBB-Literatursendung-Studio-Orange/!5898503 | |
[2] /Neues-Buch-von-Helene-Hegemann/!5857734 | |
[3] /Neue-Staffel-Literarisches-Quartett/!5667020 | |
[4] /BookTok/!5930403 | |
[5] https://www.ardmediathek.de/serie/longreads/staffel-1/Y3JpZDovL3JiYi1vbmxpb… | |
[6] /TV-Kritik-zu-Durch-die-Nacht-mit-/!5425539 | |
[7] /Neuer-Podcast-mit-Samira-El-Ouassil/!5973655 | |
## AUTOREN | |
Johann Voigt | |
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