| # taz.de -- Roman „Das synthetische Herz“: Wenn überall Marktgesetze gelten | |
| > In ihrem Roman „Das synthetische Herz“ schildert Chloé Delaume desaströ… | |
| > Nichtliebesabenteuer. Dabei entzaubert sie den hehren Literaturbetrieb. | |
| Bild: Unschöne Wahrheiten in der Liebe und im Verlagswesen: Chloé Delaume | |
| Böse, witzig, klug und gnadenlos ehrlich: Suchen Sie sich was aus, alle | |
| Beschreibungen treffen auf diesen Roman zu. „Das synthetische Herz“ von | |
| Chloé Delaume handelt von der frisch geschiedenen Verlagsangestellten | |
| Adélaïde Berthel, die, bislang durch die Eigenschaften „jung“, „schön�… | |
| „intelligent“ verwöhnt, wie selbstverständlich davon ausgeht, binnen 14 | |
| Tagen einen neuen Mann an ihrer Seite zu haben. | |
| Schließlich hatte sie seit ihrem 16. Lebensjahr durchgängig Beziehungen und | |
| Liebschaften, war nie allein, hatte immer einen Mann für einen anderen | |
| verlassen. Nun fehlt ihr allerdings als 46-Jähriger im Dreiklang | |
| attraktiver Eigenschaften die Jugend, und damit lernt sie im Verlauf der | |
| Geschichte schmerzhaft, was der Roman gleich zu Anfang preisgibt: „Dies ist | |
| die Geschichte einer Rose, die noch nicht weiß, dass sie zum Mauerblümchen | |
| wird.“ | |
| Beklagenswert ahnungslos geht Adélaïde ambitioniert und schwungvoll ihren | |
| Plan einer neuen Liebschaft an. Sie studiert Statistiken, aus denen | |
| hervorgeht, wann und wo Beziehungen geknüpft werden, trinkt in stilvollen | |
| Bars und tanzt in angesagten Clubs, kontaktiert verflossene Liebschaften. | |
| Doch nichts will gelingen. | |
| Der Roman setzt die oft beklagte Unsichtbarkeit von Frauen ab der zweiten | |
| Lebensmitte drastisch in Szene und spart nicht mit Szenen, in denen sich | |
| Liebeswünsche als illusionäre Luftschlösser erweisen. Von einem | |
| beschämenden Versuch mag Adélaïde nicht einmal ihren vier Freundinnen | |
| erzählen, die sie tapfer auf ihrem Weg als Single unterstützen. | |
| ## Unschöne Wahrheiten | |
| Wie Michel Houellebecq zeigt Delaume das Liebesgeschehen als Schauplatz, | |
| auf dem auch Marktgesetze gelten, die insbesondere für Frauen unschöne | |
| Wahrheiten bereithalten. Doch im Unterschied zu Houellebecq, dessen einsame | |
| und sexuell frustrierte männliche Protagonisten ständig von einem Odeur des | |
| Larmoyanten und des Ich-habe-Besseres-verdient!-Gekränktseins umgeben sind, | |
| geht Delaume recht gutgelaunt an ihre Themen heran. | |
| Ihre Szenen gleichen Versuchsanordnungen, in denen man der armen Adélaïde | |
| bei ihren Katastrophen zuschaut und sich dabei amüsiert – | |
| Wiedererkennungseffekte aus den Untiefen der Geschlechterkonflikte | |
| inklusive. Der Erfolg gibt der Autorin recht: 2020 wurde der Roman in | |
| Frankreich zum Bestseller und zudem mit dem Prix Médicis ausgezeichnet. | |
| Oder lag es an der guten Verlagsarbeit? Denn Adélaïdes desaströse | |
| Nichtliebesabenteuer werden ergänzt durch eine Satire auf den | |
| Literaturbetrieb. Dieser Erzählstrang ist ebenso böse, witzig, klug und | |
| gnadenlos ehrlich. | |
| ## Gehätschelt und erfolglos | |
| Adélaïdes Aufgaben als Pressefrau im Verlag sind anspruchsvoll: | |
| Bestsellerverwöhnte Autor:innen wollen gehätschelt, erfolglose | |
| Autor:innen wollen getröstet und überhaupt alle auf der Spur gehalten | |
| werden, die sich der Verlag wünscht und an deren Ende nach | |
| Fernsehauftritten und Magazinberichten renommierte Preise winken. Zur Not | |
| tut es aber auch die Titelseite eines Haustiermagazins, immerhin springt | |
| prompt eine Auszeichnung des Tierschutzbundes dabei heraus. | |
| Delaume spiegelt beide Erzählstränge ineinander. Werden im Privaten mit | |
| Schminken, Eincremen und Verschönern die Prozeduren vollzogen, in denen die | |
| Spuren des Alterns verschwinden und die Attraktivitätswerte erhöht werden | |
| sollen, so gleicht dies dem Pushen und Agitieren der Verlagsmitarbeitenden | |
| hinter den Kulissen des Literaturbetriebs, wo sich die schöne Literatur als | |
| schnöde Ware zeigt, die man mit allen Mitteln an die Käufer:innen | |
| bringen muss. | |
| „Der Saisonauftakt gleicht einem Pferderennen. Jeder Verlag ist ein | |
| Rennstall, die Autoren sind die Pferde, die Journalisten die Hindernisse, | |
| es gibt Trophäen und Preise, auf den Tribünen werden Wetten abgeschlossen. | |
| Der Pokal ist in diesem Fall eine rote Banderole um den Bucheinband.“ | |
| Entzauberung also allerorten. Doch im Unterschied zu dem durch das Altern | |
| ausgelösten Kursverlust auf dem Beziehungsmarkt kann Adélaïde für ihre | |
| erfolglosen Autor:innen noch etwas reißen, wenn die Inszenierungen | |
| stimmen. | |
| ## Das Buch verdeckt die Unterhose | |
| Mit dem Segen ihres Chefs und unterstützt vom Marketing startet sie am | |
| Saisonende ihre Mission „Rettung von Steven Learchand“: „Courtel ist | |
| einverstanden, der Friseur kann als Spesen abgerechnet werden. Selma hat | |
| Klamotten von The Kooples, Adélaïde besonders starkes Haschisch besorgt. | |
| Die Location ist eine leer stehende Fabrikhalle. In den sozialen Medien | |
| regnet es Herzen, so etwas lieben sie. Vor allem das Ganzkörperportrait von | |
| Steven, mit nacktem Oberkörper unter der Motorradjacke, das Buch verdeckt | |
| seine Unterhose.“ | |
| Sex sells: Die Überblendungen der Liebes- und Verlagsgeschichte zeigen den | |
| Literaturbetrieb als eine andere Art von Schönheitsindustrie, die ebenso | |
| mit Verschleierungen, Projektionen und Fantasien arbeitet und, wenn sonst | |
| nichts mehr hilft, auch vor Pornografie nicht zurückschreckt. Der Autor mit | |
| Buch vor der Unterhose: Was soll’s, im Notfall wird sich eben prostituiert. | |
| Dabei hat das alte Medium Literatur den Warencharakter des Buches immer gut | |
| hinter der Aura des Schönen, Wahren und Edlen versteckt. Und auch die | |
| Inszenierungs- und Affektkultur der neuen Medien lässt vergessen, wie viel | |
| Arbeit und Verkaufsdruck hinter den attraktiven Bildern stecken. Gut also, | |
| dass „Das synthetische Herz“ nicht nur auf Verlagsarbeit, sondern auch auf | |
| literarische Kernkompetenzen setzt, den glänzenden Bildern gnadenlos den | |
| Stecker zieht und dabei so richtig schön hässlich aussehen kann. | |
| 27 Jun 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Elke Brüns | |
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