# taz.de -- Glaube an bessere Tage: Das Gegenteil von Weltschmerz | |
> Wie verliert man als Mensch nicht die Hoffnung auf einem Planeten, der | |
> voller Enttäuschungen ist? Gedanken über die bedingungslose Liebe zu | |
> allem. | |
Bild: Bedingungslose Liebe ist ein schwieriges Thema bei all der Hoffnungslosig… | |
Vier Freunde steigen bei Nacht auf einen Hügel und schauen den Mond an, von | |
dem sie wissen, dass auf ihm böse Menschen leben. Sie diskutieren, ob die | |
Menschen auf dem Mond wirklich böse sind – ob eine Welt überhaupt je ganz | |
und gar böse sein kann. | |
„In jeder Gesellschaft, egal wie sie ist, muss es ein paar Anständige | |
geben.“ So geht die Geschichte in Ursula Le Guins Science-Fiction-Klassiker | |
„The Dispossessed“ – auf Deutsch lautet der [1][Titel wahlweise „Planet… | |
Habenichtse“ oder „Freie Geister“]. Le Guins Protagonist lebt auf dem | |
Planet der Anarchie, wo man keine Regierungen kennt und kein Eigentum. Für | |
ihn und seine Freunde sind die „Menschen auf dem Mond“, die Kriege führen | |
und Geld benutzen, fremd und gefährlich. Und doch strebt der Protagonist | |
danach, jene Welt zu einer besseren zu machen – und damit auch seine | |
eigene, denn auch die Anarchie ist alles andere als perfekt. Die Liebe zur | |
Idee von einer besseren Welt treibt ihn an, ist größer als seine Liebe zu | |
anderen Menschen. | |
Ich lese „The Dispossessed“ Ende Februar, während draußen in Europa | |
offenbar die alte, berechenbare Krise von der neuen, unberechenbaren Krise | |
abgelöst wird. Und ich frage mich, wie das funktionieren soll, dass man | |
eine Welt, die vor sich hin zugrunde geht, so sehr liebt, dass man sich | |
immer wieder aufrafft, sie ein bisschen besser zu machen. | |
Denn die Kriege hören ja nicht auf und die Böden werden trockener und die | |
Autos mehr und die Ausbeutung, die hab ich mittlerweile als App auf dem | |
Handy. Apropos Handy, auf meinem Handy streiten sich Menschen täglich | |
darüber, was andere Menschen falsches gesagt haben. Alles Menschen mit | |
Idealismus, denke ich, die idealistisch am Rad drehen. | |
## Nicht-Klarkommen auf hohem Niveau | |
Menschen mit Idealismus finden, dass die Welt besser werden muss. Wenn die | |
Welt dann das Gegenteil davon tut, dann leiden sie. Die einen sagen dann | |
Dinge wie „War doch klar!“, ziehen die Schultern hoch und an ihrer | |
Zigarette und werden zynisch und heiser. Die anderen schmeißen sich in | |
Aktionismus oder trauern still vor sich hin. Sie alle leiden unter | |
Welt-Liebes-Kummer. Oder eben: Weltschmerz. | |
Weltschmerz ist so ein Wort, das wahrscheinlich alle verstehen, obwohl | |
wahrscheinlich jede*r etwas völlig anderes damit meint. Aber als | |
Wortschöpfung ist es genial. Angeblich hat der Schriftsteller Jean Paul, | |
der im 18. und 19. Jahrhundert gelebt hat, das Wort geprägt, aber | |
vermutlich war er bloß der erste, der es aufgeschrieben hat. Weltschmerz | |
fühlt sich garantiert unterschiedlich an, aber mit dem Wort kann man | |
immerhin drüber reden. Alle verstehen’s (auch wenn’s nicht jede*r ernst | |
nimmt). Zeit Campus ließ neulich eine Therapeutin erklären, was der | |
Unterschied zwischen Weltschmerz und Depression ist, sie wurde dabei aber | |
gar nicht gebeten, Weltschmerz zu definieren. Vielleicht ist das Wort auch | |
ein bisschen zu niedlich, zu abgegriffen, zu wenig präzis. Zu romantisch? | |
Klingt nach Nicht-Klarkommen auf hohem Niveau, depressive Verstimmung mit | |
Abi. | |
Die [2][britische Poetin Anne Clark] umschreibt ihren Weltschmerz so: | |
Hier nimmt die Stille ihren Lauf | |
Und die Traurigkeit reibt sich angesichts unserer die Augen | |
Wir fallen von einem Gerüst, gebaut auf unruhige Gedanken, | |
Meine Welt wird zu Eisen – und kalt wie Winter. | |
Romantisch ist vielleicht gar nicht so schlecht, denke ich. Die original | |
Romantiker*innen verzweifelten ja vor allem daran, dass ihr 19. | |
Jahrhundert alles präzise zu machen versuchte – aber dabei vor lauter | |
Wandel völlig unberechenbar war. Demokratie hier, feudaler Backlash dort, | |
Revolution, gescheiterte Revolution, industrielle Revolution. Die | |
Romantiker*innen waren gleichzeitig in Aufbruchstimmung und wollten | |
sich mit Netflix unter der Decke verkriechen. Kein bisschen anders als ich | |
heute. | |
## Positives Denken | |
Was ist aber das Gegenteil von Weltschmerz? Wie kommt man da wieder raus? | |
Irgendwann muss das Leben doch weitergehen, man wird immerhin gebraucht, | |
nicht wahr? | |
Was definitiv nicht das Gegenteil von Weltschmerz ist, ist „Positives | |
Denken“. Zugegeben, positives Denken hat seinen schlechten Ruf zu Unrecht, | |
denn es ist eine lebenswichtige und auch soziale Fähigkeit. Aber „Positive | |
Thinking“ ist von der Meme- und Kalenderindustrie leider plattgewalzt | |
worden. Zu etwas, das man einfach mal eben ständig zwischendurch tun soll, | |
ohne dass einem jemand etwas sagt, wie: Der Depression ist es nicht | |
gewachsen, dem Weltschmerz auch nicht. Außerdem: Positives Denken hat uns | |
doch erst den Weltschmerz eingebrockt – wir glauben an das Gute, deshalb | |
leiden wir. | |
Eine andere Option ist Sich-Versenken. Rein in den Weltschmerz mit stillem | |
Gebrüll. Die Romantiker*innen waren der Ansicht, dass seelisches Leid | |
etwas ganz Großartiges sei. Sie erfanden in ihren Geschichten unglückliche | |
Naturgeister, die nicht fühlen konnten und sich nach menschlichen Seelen | |
sehnten, mit all deren Schmerz. Hans Christian Andersens „kleine | |
Meerjungfrau“ zum Beispiel. Oder die „Schöne Lau“ bei Eduard Mörike, die | |
das Lachen verlernt hat. Romantische Dichter würden vermutlich dazu raten, | |
das stille Seelenleid so richtig hochzudrehen und es am besten zu Papier zu | |
bringen. | |
## Weg von anderen | |
Vielleicht ist es genau das, was Matthew Arnold getan hat, als er um 1850 | |
herum das Gedicht „Dover Beach“ schrieb. In „Dover Beach“ fordert Arnold | |
uns auf, zuzuhören, wie an der Küstenbrandung die Kiesel aus sämtlichen | |
Weltmeeren zu Sand zermahlen werden. | |
„Ach, Liebe! Laß uns aneinander | Treu sein! Denn die Welt, die vor uns, | | |
Wie ein Traumland zu stehen scheint, | So unterschiedlich, so schön, so | |
neu, | Hat wirklich weder Freude, noch Liebe, noch Licht; | Noch | |
Sicherheit, noch Ruhe, noch Schmerzenserlaß; | Und wir sind hier, als ob | |
auf einem dämmernden Feld, | Umstellt mit verworrenen Alarmen des Streits | |
und der Flucht, Wo unwissende Heere zur Nacht zusammenstoßen.“ | |
Wunderbar, aber Sich-Versenken in den Weltschmerz führt auch weg von | |
anderen, immer weiter in einen selbst rein. „Egoisieren“ nennen das die | |
Menschen auf Ursula Le Guins anarchistischem Planeten. Denn was ist, wenn | |
die romantische Dichterin irgendwann wieder von ihrem Weltschmerz-Weinberg | |
runtersteigen möchte – oder muss? | |
## Aufreißen der Wunden | |
Anderer Ansatz: Angenommen, Weltschmerz ist unerfülltes Begehren. In der | |
westlichen Mythologie und in der jüdisch-christlichen Schöpfungsgeschichte | |
ist Begehren immer eine Wunde. Im ersten Buch Mose wird der Mensch aus dem | |
Paradies verbannt. Aber eigentlich ist er schon davor unvollständig, weil | |
er der Erde entnommen ist, zu der er früher oder später zurückkehren muss. | |
bell hooks sieht Menschen als verwundet, weil Gesellschaft oder Eltern uns | |
früh verbaten, unser wahres Begehren zu offenbaren. | |
Vielleicht ist Weltschmerz einfach Grundsubstanz vom Menschsein. | |
Heilungsschmerzen vom ständigen wieder-Aufreißen der Wunden. Nicht gerade | |
appetitlich. | |
Und jetzt? Strategien gibt's so viele wie Weltschmerze. Manche | |
Freund*innen machen sich einen romantischen Popsong an, andere jammen den | |
Schmerz zu einer Rockballade nach draußen. Wieder andere schwören auf | |
Gelassenheits-Mantras. Für bell hooks ist das Lieben politische Praxis. | |
## Glaube an bessere Tage | |
Meine persönliche Strategie ist Hoffnung. Emily Dickinson nennt die | |
Hoffnung das „Federding in der Seele, das ohne Worte singt und niemals müde | |
wird“. Fast 150 Jahre später, im Jahr 2003, [3][schreibt die | |
Queer-Theoretikerin Eve Kosofsky Sedgwick] mit Blick auf die | |
AIDS-Katastrophe: „Hoffnung ist ein Erlebnis, das oft brüchig oder | |
traumatisch sein kann.“ Sedgwick ermutigt dazu, die Scherben aufzuheben und | |
zu etwas ganz Neuem zusammenzubauen. Hoffen kann man allerdings im | |
Gegensatz zu weltschmerzen nicht allein. Hoffnung funktioniert so: | |
Irgendjemand ist immer gerade mal kurz ein wenig hoffnungsvoll und trägt | |
die Gruppe ein Stückchen auf seinem Seelen-Federding mit, bevor jemand | |
anderes übernimmt. Man muss sich nur zusammentun mit den anderen | |
Weltverliebten, den zynisch Zigarette-Rauchenden, den aufgeregt Aktiven, | |
den leise Leidenden und sich gegenseitig tragen. | |
Denn egal, wie man mit Weltschmerz umgeht: Gemeinsam hat man den Glauben an | |
bessere Tage. Und das heißt, dass man die Chance hat in der Krise seinen | |
Platz, seine Aufgabe zu finden. So machen es die Anarchist*innen in | |
Ursula Le Guins Utopie. Ständig scheiternd lassen sie sich immer weiter von | |
der Hoffnung leiten, dass sich irgendwann das Bessere durchsetzt. Sie | |
lieben ihre Welt bedingungslos, auch wenn sie sie immer wieder enttäuscht. | |
Romantisch, oder? | |
8 Jul 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.google.de/books/edition/Freie_Geister/WFMRDAAAQBAJ?hl=de&gb… | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=H9ggNfY_kj4 | |
[3] https://brand-new-life.org/b-n-l-de/paranoides-lesen-und-reparatives-lesen-… | |
## AUTOREN | |
Peter Weissenburger | |
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