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# taz.de -- Neuer Roman von Jennifer Egan: Personen mit Hyperlinks
> Ich bleiben in der vernetzten Gegenwart der kollektiven Clouds –
> schwierig. Die Figuren von Jennifer Egans neuem Roman „Candy Haus“ treibt
> das um.
Bild: Zeitgemäße Themen, beinahe altmodische Erzählerin: Jennifer Egan
Viel Großes begann in Garagen. Rockbands probten dort an ihren
Instrumenten, bevor sie den Aufstand probten. Später waren es die
technikaffinen Nerds, die dort – gerade noch von den coolen Kids als
Eierköpfe verspottet – an den Grundlagen der Netzgesellschaft schraubten.
Jennifer Egan kennt beide Welten. Mit dem König der Datennerds, Steve Jobs,
der seinen Tech-Riesen Apple bekanntlich wirklich in der Garage gründete,
war die US-Autorin eine Weile liiert. Tief in die alte Welt des Rock ’n’
Roll und seiner Heilsversprechen hingegen führte einst ihr Roman [1][„Der
größere Teil der Welt“].
Dieses Gimmick-geladene, von sanfter Wehmut getragene Buch, das eigentlich
vielmehr ein Mixtape in 13 Episoden ist, erschien im Jahr 2010, fühlt sich
jetzt schon an wie ein Klassiker aus einer fernen Zeit: dem späten 20.
Jahrhundert nämlich, mit seinen hängengebliebenen Hippies und Ex-Punks, die
als Musikbranchen-Größen ihre Integrität verscheuert haben. Es war ein
Abgesang auf den gegenkulturellen amerikanischen Traum, der zu Beginn des
neuen Jahrtausends endgültig ausgeträumt schien.
Egans neuer, heiß erwarteter, erneut episodenhafter Roman „Candy Haus“ ist
die lose Fortsetzung dieses Pulitzer-Preis-dekorierten Buchs. Die Handlung
setzt dort ein, wo „Der größere Teil …“ endete: zu einem Zeitpunkt, an …
die Welt nicht mehr den coolen Lederjackenjungs aus der Garage gehört,
sondern den Tech-Typen aus dem Silicon Valley, den Nerds von einst, die den
Traum der Hippies an die Börse gebracht haben.
Einer dieser erfolgreichen Glücksritter, Bix Bouton, ist bezeichnenderweise
in der Rock-’n’Roll--Saga „Der größere Teil …“ als blasse Nebenfigu…
Bild gehuscht. In „Candy Haus“ tritt er aus dem Schatten: Als Gründer des
sozialen Netzwerks Mandala ist er eine Tech-Berühmtheit, die vor lauter
Arbeit an der globalen Konnektivität den Bezug zu seinem unmittelbaren
Umfeld verloren hat.
## Gespeicherte Erinnerungen
Bouton wird auch als Gigant in der Sinnkrise eingeführt, denn das Netzwerk
Mandala ist aus der Mode gekommen. Sein nächster großer Wurf soll die
Menschen nun auf einer noch tieferen Ebene verbinden: Das Tool „Besitze
dein Unterbewusstes“ soll es den Menschen ermöglichen, ihre Erinnerungen in
eine Cloud auszulagern, sie in „kollektive Bewusstsein“ einzuspeisen. Tut
man das, erhält man Zugriff auf die Erinnerungen anderer – und wer Kathryn
Bigelows Film „Strange Days“ kennt, in dem auf Mini-Disks gespeicherte
Erinnerungen fremder Menschen heiße Dealer-Ware sind, kann erahnen, was die
Lust auf Voyeurismus so alles in Gang setzt.
Auch wenn eine Zeitenwende „Der größere Teil der Welt“ und „Candy Haus�…
trennt, bleibt Egan beim Nachfolger bei ihrer bewährten Formel: Ihr Tonfall
ist der einer sehr klassischen, beinahe altmodischen Erzählerin, die Form
ihres Romans erneut abenteuerlich – wenn auch diese Abenteuerlichkeit bei
ihr eine gewisse Routiniertheit besitzt. Wie über Hyperlinks springt man
von Person zu Person und wird, wie schon in „Der größere Teil …“, bald
süchtig danach, Querverbindungen zwischen den Geschichten und „Easter Eggs“
für Kenner:innen des inoffiziellen ersten Teils zu finden.
Alle stehen irgendwie in Verbindung zueinander: ein liebeskummernder
Programmierer etwa, ein Familienvater und eine Detektivin, die Angst hat,
durch die große Bewusstseins-Cloud nicht mehr Herrin ihrer Gedanken zu
sein. Während die Figuren in „Der größere Teil …“ der Idee des Echtble…
hinterherjagten (in der Welt des Pop, in der die Sache mit der Echtheit ja
eh vertrackt ist), treibt ihre Charaktere im kunstvoll aufgestellten „Candy
Haus“-Ensemble vor allem Ichbleiben in einer bestens vernetzten Gegenwart
um, in der das Kollektiv eine Wirkung habe, die der Schwerkraft ähnelt, wie
Egan schreibt: Niemand könne ihm widerstehen.
## Ziemlich privatistisch
Weil aggressive Nostalgie zum Glück nicht Egans Sache ist, genauso wenig
wie Alarmismus, wird zum Glück keine Tech-Dystopie draus, [2][kein „The
Circle“] von kaleidoskopischer Beschaffenheit. Einerseits. Andererseits
bleibt „Candy Haus“ ganz schön privatistisch.
Bei aller Sympathie für die fantastisch gezeichneten Figuren ist das
mindestens irritierend. Schließlich dürfte sich gerade eine so politische
Autorin wie Egan durchaus dafür interessieren, dass die Tech-Nerds aus der
Garage heute maßgeblich die Geschicke der Welt beeinflussen.
25 Sep 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Julia Lorenz
## TAGS
Literatur
Digitalisierung
Subkultur
Frauen
Gegenwartsroman
Science-Fiction
Literatur
New York
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Teil der Welt".
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