# taz.de -- Neuer Roman von Jennifer Egan: Der komplizierte Weg von A nach B | |
> Kurzgeschichten und Zukunftsszenarien: Wie episches Erzählen heute | |
> aussehen kann, erzählt Jennifer Egans so komplexer wie bewegender Roman | |
> "Der größere Teil der Welt". | |
Bild: Popkulturell durchweht: Iggy Pop kommt auf Seite 69 des Romans vor – un… | |
Jennifer Egan kann schreiben, dass es einen schier umpustet. Wie es sich | |
anfühlt, nachts in den eiskalten East River bei New York zu springen und | |
langsam zu realisieren, dass man von der Strömung weggetrieben wird. Wie es | |
ist, wenn auf einer Afrikasafari ein Mensch von einem Löwen tatsächlich | |
angefallen wird. Wie für Jugendliche die Aufregung bei einem Rockkonzert | |
plötzlich zum größten Abenteuer des Lebens umschlägt – und sich dann die | |
Befreiung und die Selbstverwirklichung im Musikbusiness aber doch nicht | |
einstellen. | |
Viele Szenen in Jennifer Egans Roman "Der größere Teil der Welt" lassen | |
intensive Momente so glaubwürdig und in den schriftstellerischen Mitteln | |
sogleich so abgeklärt aufscheinen, dass man diese Autorin unbedingt | |
bewundern muss. | |
Die Schönheit und die Herausforderung dieses Romans liegen aber noch in | |
etwas anderem. Erzählt ist dieses Buch in dreizehn Episoden - jede mit | |
einer anderen Hauptfigur, jede in einer anderen Perspektive und viele in | |
ganz unterschiedlichen Genres. Von dem Minivorstadtroman über den Bericht | |
aus der Ich-Perspektive, von der Persiflage einer Gonzo-Reportage bis zur | |
klassisch gebauten Kurzgeschichte, vom ironisch zugespitzten | |
Zukunftsszenario bis zur, großartig gemacht, in Vortragsfolien abgefassten | |
Familienaufstellung einer Dreizehnjährigen ist alles vertreten. | |
"Der größere Teil der Welt" ist ein Mosaik der unterschiedlichen | |
Stimmlagen. Zudem springt Jennifer Egan in dem Geschehen um ein gutes | |
Dutzend Figuren, deren Leben in den unterschiedlichen Episoden voneinander | |
beeinflusst und gespiegelt wird, ständig vor und zurück. | |
Ein Spiel mit der Aufnahmefähigkeit des Lesers ist der Roman also auch. So | |
sehr man von den einzelnen Stellen fasziniert wird, die wahre | |
Kunstfertigkeit des Bauplans enthüllt sich erst, wenn man beim zweiten | |
Lesen ein Personenverzeichnis anlegt und die Beziehungen der Figuren | |
untereinander mit Pfeilen skizziert. Klingt nach Schulaufgabe, bringt aber | |
Spaß. Das Lesen ist hier auch eine Art Detektivspiel, und man könnte sich - | |
was es bei Arno Schmid oder David Foster Wallace schon längst gibt - eine | |
Homepage vorstellen, auf der sich die Leser gegenseitig mit Hinweisen | |
vorsorgen. | |
## Nach den Rebellionen | |
Nur ein Beispiel. In der ersten Episode wird eine Kleptomanin namens Sasha | |
eingeführt. In der zweiten Episode wird sie in ihrer Arbeit als Assistentin | |
eines Musikproduzenten beschrieben; dreißig, desillusioniert, noch ohne | |
Kinder. Fast 200 Seiten später erzählt Jennifer Egan, geschrieben in der | |
Du-Perspektive, die vorausgegangene und ebenso herzzerreißende wie keusche | |
Liebesgeschichte zwischen ihr und Rob - das ist derjenige, der am Ende | |
dieser Episode im East River ertrinkt ("Alle haben euch für ein Paar | |
gehalten, so tief ging die Sache mit dir und Sasha"). | |
Erst ein paar Episoden später erfährt man wiederum davon die Vorgeschichte: | |
wie Sasha von zu Hause ausgerissen ist, wie sie mit einer Band als Groupie | |
auf Welttournee gegangen und dann in Neapel gestrandet ist und wie sie dort | |
von ihrem Onkel eher unfreiwillig aufgespürt wurde. Ihre Narben, ihr | |
Musikgeschmack, ihre Kleptomanie, ihre Bindungsprobleme - all das wird | |
überaus plastisch geschildert. | |
Und in der vorletzten Episode schildert Jennifer Egan dann ganz en passant, | |
wie diese Sasha nach all ihren Rebellionen und subkulturellen Ausflügen | |
dann eben doch noch von einem eher traditionellen Leben eingeholt wird, mit | |
Ehemann und zwei Kindern landet sie in einem Vorort. In dieser | |
Kompliziertheit und emotionalen Dichte erzählt dieser Roman ein halbes | |
Dutzend Lebensläufe. | |
## Egan, das literarische Wunderkind | |
Beim Lesen stellt man sich immer mal wieder die Frage: Warum bewegt einen | |
das hier alles so? Erzählerischen Erfindungsreichtum und Wagemut sowie | |
Beschlagenheit in den Erzähltechniken der Moderne von Tristram Shandy über | |
Marcel Proust bis Virginia Woolf – all das besitzt die 1962 geborene | |
Jennifer Egan, wie man zuletzt schon in Porträts lesen konnte, fast im | |
Übermaß. Hinzu kommt die Fähigkeit, all das mit Leichtigkeit aufs Papier zu | |
bringen. Während viele europäische Autoren mit den Techniken der Avantgarde | |
immer noch kämpfen, wendet sie sie einfach an. Immer mal wieder kommt einem | |
beim ersten Lesen dabei sogar der Verdacht, hier würde ein literarisches | |
Wunderkind mal zeigen, was es alles so drauf hat. | |
Die Ernsthaftigkeit und die Würde dieses literarischen Unternehmens zeigen | |
sich aber, wenn man darüber nachdenkt, was die verschiedenen Episoden | |
verbindet. Da gibt es dieses dichte Geflecht an Bezügen und Motiven. Da | |
gibt es die Spiegelungen - alle wesentlichen Motive werden gedoppelt: Neben | |
der Safari gibt es eine zweite Afrikaepisode, einen mit satirischer Lust | |
geschilderten PR-Einsatz für einen Diktator; neben Sasha, deren Leben sich | |
schlussendliche in ruhige Bahnen einlenkt, gibt es eine Frauenfigur, deren | |
Leben aus dem Ruder läuft; neben dem scheiternden Comeback eines Rockstars | |
gibt es ein gelingendes Comeback eines anderen Rockstars; neben dem | |
Ertrinkenden schwimmt ein Mann, der es zurück ins Leben schafft. | |
Und da gibt es diesen Hallraum aus Fernsehseriendramaturgien und | |
Soziale-Netzwerk-Verflechtungen, den Jennifer Egan schafft. Aber all das | |
trifft noch nicht den Glutkern dieses Erzählens. | |
Der liegt, glaube ich, vielmehr in einem weit gefassten Realismus. Einem | |
Realismus, dem es - wie es der US-amerikanische Kritiker James Wood in | |
seinem wichtigen Buch "Die Kunst des Erzählens" beschrieben hat - darum | |
geht, ein Werk zu schaffen, das genau sieht, wie die Dinge beschaffen sind. | |
"Ich bin gekommen, weil ich wissen will, was zwischen A und B passiert | |
ist", lässt Jennifer Egan einmal eine Figur sagen: "Früher waren wir beide | |
Loser, aber jetzt bin nur noch ich ein Loser, warum?" Aber so einfach ist | |
das natürlich nicht, so gradlinig lässt sich das eben nicht beantworten. | |
Zufälle spielen eine Rolle, Prägungen, Abhängigkeiten, falsche | |
Lebensentscheidungen. | |
## Fremd im eigenen Leben | |
Außerdem steht Jennifer Egan, anders als etwa Jonathan Franzen, dem sie | |
2011 mit diesem Roman den Pulitzerpreis wegschnappte, nicht mehr dieses | |
eine Grundmotiv zur Verfügung, mit dem er seine Figuren verbindet; etwa das | |
Motiv, dass die nachfolgende Generation das Leben der vorangegangen | |
korrigieren möchte - und damit nicht fertig wird. Es gibt bei Jennifer Egan | |
auch keine klassischen Außenseiterfiguren mehr, keine einsamen Männer, die | |
durch die Straßen oder die Nächte laufen und sich ihr Teil dazu denken, und | |
auch kein heroisches Rebellentum. Dafür sind bei ihr alle Figuren sich | |
selbst fremd geworden und schlagen sich doch irgendwie durchs Leben. Und | |
genau in so einer Situation experimentiert diese Autorin damit herum, wie | |
man Lebensläufe noch erzählbar machen kann. | |
Der schönste Punkt ist vielleicht: Es gibt nichts Anachronistisches an | |
diesem Roman. "Der größere Teil der Welt" sieht zwar trotz seiner | |
Komplexität und erzählerischen Wucht in manchem sehr anders aus als Romane, | |
die wir als ernst und literarisch wertvoll zu begreifen gewohnt sind. | |
Vielleicht ist er dafür schlicht zu popkulturell durchtränkt (übrigens eher | |
in der Indie- als in der Technoschiene). Aber es ist des ernsthaften | |
Nachdenkens wert, ob episches Erzählen heute nicht genau so funktionieren | |
müsste. | |
Von den Lebensläufen ihrer Figuren erzählt Jennifer Egan in Verdichtungen, | |
Knotenpunkten, literarischen Masken. Ach, man möchte geradezu pathetisch | |
werden: Dieser Roman weiß um das Dramatische und die Ereignishaftigkeit des | |
Lebens auch noch in unserer Angestellten- und Mittelstandsgesellschaft. Und | |
er bewahrt den Anspruch der Literatur, ein aktuelles Lebens- und Zeitgefühl | |
(das nie naiv sein kann) aufzuzeichnen. | |
## "Der größere Teil der Welt". Aus dem Amerikanischen von Heide Zeltmann. | |
Schöffling & Co, Frankfurt a. M. 2012, 390 Seiten, 22,95 Euro. | |
19 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
Dirk Knipphals | |
## TAGS | |
Literatur | |
New York | |
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