# taz.de -- „Manhattan Beach“ von Jennifer Egan: Mit mitfühlender Unerbitt… | |
> In ihrem neuen Roman taucht Jennifer Egan historisch ab. Sie erzählt mit | |
> allen Taschenspielertricks aus dem New York des Zweiten Weltkriegs. | |
Bild: Knoten knüpfen kann die Autorin | |
In einer Schlüsselszene muss Anna Kerrigan zur Probe einen Knoten lösen, | |
während sie an Land in einem hundert Kilogramm schweren Taucheranzug | |
steckt, einem dieser archaisch anmutenden Ganzkörperanzüge mit Metallhelm | |
und schweren Handschuhen, die nur drei Finger haben. Jennifer Egan drückt | |
an dieser Stelle sprachlich gar nicht auf die Tube, und doch vermittelt sie | |
einen Eindruck davon, wie schwierig diese Entknotungsaufgabe zu lösen ist. | |
Jennifer Egan hat sich die entgegengesetzte Aufgabe gestellt. Sie musste | |
die erzählerischen Knoten ja erst einmal knüpfen. Die Konsequenz, mit der | |
die 1962 geborene Schriftstellern das tut, mag einen zunächst überraschen. | |
Aus den USA schwappt „Manhattan Beach“ eine gewaltige Bugwelle an Lob | |
voraus. Ganz Amerika hatte sich offenbar in diesen Roman verknallt. | |
Aus der Schar der Egan-Fans aber gab es auch enttäuschte Stimmen. [1][Ihr | |
vorangegangener Roman „Der größere Teil der Welt“] war ein glücklich | |
machendes Erzähllabor, in dem die Autorin lässig mit Erzählperspektiven | |
spielte. Ein Kapitel war ganz in der Form von Schautafeln erzählt. Das war | |
schon toll. Und nun hat sie „nur“ einen historischen Roman geschrieben, und | |
das dazu noch weitgehend traditionell? | |
Tatsächlich braucht man ein bisschen, bevor man sich auf das neue Setting | |
eingestellt hat. Musterschülerinnenhaft liefert Egan die Beschreibungen von | |
Oldtimern und Nachtclubs, die man in einem Roman, der in den zwanziger | |
Jahren einsetzt und dann das New York des Zweiten Weltkriegs beschreibt, | |
halt braucht. | |
## Seismische Umwälzung | |
Außerdem gibt es allzu auktorial anmutende Formulierungen: „Als Anna das | |
Besteck zur Kantine zurückbrachte, spürte sie, wie sich in ihrem Inneren | |
eine seismische Umwälzung vollzog.“ Seismische Umwälzung! So abstrakt | |
beschreibt man doch keine komplexen Seelenlagen. | |
Im Hintergrund ist Jennifer Egan aber längst dabei, ihre Knoten zu knüpfen. | |
Sie erzählt eben nicht nur die Emanzipationsgeschichte der Anna Kerrigan, | |
die sich in den Kopf gesetzt hat, die erste Marinetaucherin der USA zu | |
werden. Sondern sie verwebt diesen Strang mit zwei anderen. | |
In dem einen versucht der Nachtclubbesitzer Dexter Styles sich zum legalen | |
Geschäftsmann zu wandeln – seit dem „Paten“ ein klassisches Motiv. In dem | |
anderen geht es um Annas Vater, der irgendwann einfach verschwindet. Er war | |
zwischen die Fronten der Gewerkschaften, der Verbrecherbanden und der | |
Polizei geraten, die weite Teile des New Yorker Hafens unter sich aufteilen | |
– auch das ein klassisches Ambiente der US-Kultur. | |
Man kommt ziemlich weit damit, diesen Roman als Epos über die amerikanische | |
Gesellschaft während des Zweiten Weltkriegs zu lesen. Ganz nebenbei | |
zeichnet Jennifer Egan dabei ein desillusioniertes Bild. So liegt die wahre | |
Macht in den Händen der Großväter, die, sicher geschützt in ihren Villen, | |
die Kriegsgewinne unter sich aufteilen und bei denen es zwischen legalen | |
Bankern und skrupellosen Verbrecherbossen nur graduelle Unterschiede gibt. | |
## Mitfühlende Unerbitterlichkeit | |
Wirklich gekriegt hat mich dieses Buch aber vor allem durch die vielen | |
Wunderlichkeiten und erzählerischen Taschenspielertricks, die Jennifer Egan | |
in die Handlung einbaut, gerade durch die Aspekte also, die nicht in | |
Realismus und Milieuschilderung aufgehen. Es gibt wunderbare Rettungen, | |
Momente der Erkenntnis, die zu Momenten des Todes werden, es gibt magische | |
Kanäle, die Anna und ihren Vater miteinander verbunden, über alle Zeiten | |
und Orte hinweg. | |
Dass das auch etwas von Kolportage und Pulp Fiction auf waghalsigem Niveau | |
hat, weiß Jennifer Egan. „Ein Kinofilm hätte hier geendet“, heißt es | |
einmal, als Anna ihren ersten Tauchgang im Triumph beendet. Im Roman aber | |
schickt die Autorin sie mit der mitfühlenden Unerbittlichkeit, die sehr | |
gute Menschenschilderer auszeichnet, weiter durch die Ambivalenzen ihres | |
Erwachsenwerdens. | |
Und ganz allmählich bekommt man dabei das Meer aus allen möglichen | |
Perspektiven erzählt. Wie es an den Strand läuft. Wie es sich in der Tiefe | |
anfühlt. Wie es ist, in einem Rettungsboot in den Weiten eines Ozeans zu | |
treiben. Überhaupt das Meer. Herzergreifend die Szene, in der Annas | |
behinderte Schwester zum ersten Mal in ihrem Leben auf diese Unendlichkeit | |
sieht und ihre ersten Worte lallt (wie es dann verstörend weitergeht, soll | |
man nicht verraten). | |
## Fan geblieben | |
Über [2][Vater-Tochter-Beziehungen] bekommt man einiges erzählt. Über | |
Frauenschicksale. Über Sozialkontrolle. Ausbruchsversuche. Gläserne Decken, | |
an die man stößt – bei der Marine sind es auch eiserne Wände. Und im | |
Hintergrund läuft der Krieg und wirbelt die Sozialbeziehungen an der | |
Heimatfront durcheinander. | |
Klar, das alles atmet jetzt nicht die avancierte Coolness, die „Der größere | |
Teil der Welt“ auszeichnete. Aber der Roman – und wie er die Kraft und den | |
Trost des Erzählens behauptet – kann einen doch ziemlich beschäftigen. Ich | |
bleibe Fan. | |
6 Sep 2018 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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