# taz.de -- Literatur und Selbstfindungsmodelle: Wer ist Mae Holland? | |
> „Wir“ werden manipuliert. „Unsere“ kognitiven Fähigkeiten verkümmer… | |
> Algorithmen lesen „uns“: Über eine vieldiskutierte Romanfigur. | |
Bild: Immer noch ein Bildschirm mehr ... | |
Mae Holland ist eine junge Frau aus kleineren Verhältnissen und ehrgeizig. | |
Sie verschuldet sich für ein Studium und lernt Menschen aus den besseren | |
Kreisen kennen, zu denen sie freundschaftliche Beziehungen, aber auch die | |
Minderwertigkeitskomplexe des Aufsteigers hegt. Ein erster Job bei den | |
städtischen Strom- und Gaswerken befriedigt sie nicht, sie wollte mehr aus | |
sich machen. | |
Durch Glück und Beziehungen bekommt sie die Möglichkeit, zu einer weltweit | |
führenden kalifornischen Internetfirma zu wechseln. Sie ist so glücklich, | |
dass sie gar nicht merkt, dass ihre ganze Persönlichkeit allmählich | |
hineingesogen wird in die gefräßige Scheinidentität des Firmenkollektivs. | |
Immer noch ein Bildschirm mehr wird ihr auf den Schreibtisch gestellt, | |
immer weiter wird ihre Arbeit verdichtet, bis sie nur noch eine flexible, | |
transparente Verfügungsmasse in den Händen ihres so skrupellosen wie von | |
sich überzeugten Oberbosses ist. | |
Mae Holland ist die Hauptfigur aus Dave Eggers’ vieldiskutiertem | |
Internetkonzern-Roman „Der Circle“, aber darum geht es hier nicht und auf | |
die Details kommt es nicht so sehr an. Wichtig ist, dass Mae Holland ein | |
Typus ist, ein Modell. | |
Sie ist so, wie man selbst eben gerade nicht ist – weil man die Dinge dann | |
doch zu durchschauen meint – und auch nicht werden will. Vielmehr ist sie | |
so, wie sich viele Gesellschaftskritiker ausmalen, wie die anderen Menschen | |
sind oder werden könnten: die Menschen, die man wachrütteln möchte, weil | |
sie ahnungslos in ihr Verderben hineinlaufen; die Menschen, die alles | |
mitmachen und einen selbst dabei mit ins Unglück hineinziehen. | |
## „Träumerin von außergewöhnlichen Träumen“ | |
Nicht nur in Romanen und Filmen stößt man oft auf dieses Modell, sondern | |
auch in gesellschaftlichen Debatten. Aus den Mae Hollands dieser Welt setzt | |
sich das Wir zusammen, das in ihnen oft als gefährdete, aber zugleich auch | |
als möglicherweise rettende Einheit gedacht wird. „Wir“ werden manipuliert. | |
„Unsere“ kognitiven Fähigkeiten verkümmern. Die Algorithmen lesen „uns�… | |
Aber „wir“ können auch etwas bewegen, wenn „wir“ uns aufrütteln lasse… | |
Dieses Modell macht es einem leicht, sich selbst aus der Analyse | |
herauszuhalten. Man selbst durchschaut die Verhältnisse ja, indem man die | |
Analyse ausspricht oder liest; es sind immer die anderen, die Mae Hollands, | |
die das Problem ausmachen, weil sie zum Wir erst noch finden müssen. | |
Zugleich neigt das Modell dazu, simple und im Grunde hochmoralische | |
Geschichten zu erzählen. Es ist ja ihr Ehrgeiz, der Mae Holland so | |
verführbar macht. Sie ist, wie es bei Eggers heißt, eine „Träumerin von | |
außergewöhnlichen und goldenen Träumen“. Hinter dem Typus Mae Holland | |
steckt auch eine Bestrafungsfantasie. Wenn sie nicht so viel aus sich hätte | |
machen wollen, wäre das alles nicht passiert. | |
Es gibt in der Populärkultur andere Modelle. Mit ihnen kann man ganz andere | |
Geschichten aus dem weiten Feld von Emanzipation, Überforderung, Ausbeutung | |
und Selbstoptimierung erzählen, das hier neben dem Internet den Hintergrund | |
bildet, und es ist vielleicht ganz gut, an sie zu erinnern. | |
## Gegenmodell Claudia Jean Cregg | |
Es gibt zum Beispiel C. J., Claudia Jean Cregg, die zunächst Pressechefin, | |
dann Stabschefin des Präsidenten der Vereinigten Staaten ist in der | |
großartigen Fernsehserie „West Wing“. Wie Mae Holland ist C. J. eingebunden | |
in die tägliche Gehirnwäsche aus Stress, Kommunikationszwang und | |
Überforderung. Es gibt aber zwei Punkte, die sie prinzipiell von Mae | |
Holland unterscheiden. Erstens: Sie weiß von Anfang an, worauf sie sich mit | |
ihrem Job einlässt. Und zweitens: Sie weiß auch, dass sie sich manchmal in | |
ihren Überzeugungen verbiegen und in ihren press briefings an der Grenze | |
zur Lüge agieren muss, aber im Kern muss sie doch überzeugt bleiben, dass | |
es das Richtige ist, was sie tut. | |
Und dabei lässt sie sich auch mit keinen Floskeln abspeisen wie der, dass | |
es darum gehe, „die Welt zu verbessern“, die im Silicon Valley offenbar den | |
Standardspruch darstellt. Wie verbessern? Wozu? Mit kritischen Nachfragen | |
kennt C. J. sich bestens aus. | |
Mit einer C. J. als Hauptfigur ließe sich, Hintergrundwissen vorausgesetzt, | |
viel komplexer, dichter und wahrhaftiger aus dem Herzen einer führenden | |
Internetfirma erzählen. Von der charismatischen Rede eines Chefs würde sie | |
sich vielleicht auch einmal einseifen lassen, aber hinterher würde ihr das | |
selbst auffallen. Niemals wäre sie mit einigen Psychotricks ein für alle | |
Mal zu kriegen, die Firma müsste sich permanent anstrengen, sie bei der | |
Stange zu halten. | |
Die Erzählung würde weniger eindeutig ausfallen als bei Mae Holland, aber | |
um einiges realistischer und auch beunruhigender. Denn man täusche sich | |
nicht. Mit naiven Mae Hollands kann man eine High-Tech-Internetfirma | |
niemals auf Dauer führen. Dafür braucht man Menschen mit Brillanz, | |
Überzeugung und Augenmaß, Menschen wie C. J. Mit ihr als Hauptfigur würde | |
die Geschichte nicht so nahtlos ins Verhängnis rattern wie bei Mae Holland, | |
aber man könnte sich als Leser oder Zuschauer auch nicht so leicht von ihr | |
distanzieren – zumindest ein bisschen wie C. J. werden will man ja selbst. | |
Man wäre also verstrickt. | |
## Gegenmodell Lena Dunham | |
Der große Gewinn wäre dabei: Die Geschichte könnte dann mehr von den realen | |
Ambivalenzen enthalten, die einen ja wirklich umtreiben. Zwischen | |
Überwachungsangst, digitalen Alltagserleichterungen und diesem geilen, | |
gleißenden Gefühl, wenn man mit einem noch flacheren Rechner oder einem | |
noch vernetzteren Tablet sein Ego aufpimpen kann, einerseits. Und den | |
Wünschen, aus sich etwas zu machen, und den Anforderungen, auf die man | |
dabei stößt, andererseits. Statt einer Bestrafungsfantasie und | |
Spekulationen über den Überwachungswahn der anderen beizuwohnen, könnte man | |
dann tatsächlich etwas lernen, über sich. | |
Ein zweiter interessanter Typus als mögliche Hauptfigur wäre Lena Dunham, | |
die Hauptdarstellerin, Autorin und Regisseurin der Fernsehserie „Girls“. | |
Berühmt geworden ist sie damit, dass sie als junge Frau nicht meint, immer | |
und überall perfekt sein müssen. Gegen Selbstoptimierungskrisen ist sie | |
immun. Alle anderen Krisen macht sie aber voll mit. Selbstfindungskrise – | |
here I come. | |
Mit der Dunham als Figur könnte man zeigen, um welche soziale Praxis es bei | |
den digitalen Verheißungen geht. Bei „Girls“ wird gebloggt, gefacebookt und | |
gesimst, was das Zeug hält. Und das alles ist eingebunden in die eine große | |
Frage, die alle umtreibt und am meisten Lena Dunham. In die Frage: Wer bin | |
ich? Gleich in der allerersten Folge macht Lena Dunham klar, was ihre große | |
Arbeit sein wird: zu werden, was sie ist. Das Sprachrohr ihrer Generation | |
nämlich. | |
Wie Mae Holland hat sie außergewöhnliche, goldene Träume – nur dass sie | |
sich dabei von niemandem ein X für ein U vormachen lässt. Oder einen | |
besseren Hotline- oder Moderatoren-Job (genau die macht Mae Holland | |
schließlich) für die Erfüllung. | |
## Gnadenlose Ökonomie der Aufmerksamkeit | |
Schriftstellerisch wäre es eine riesige Herausforderung, Lena Dunham und | |
die Internetwelt aufeinanderprallen zu lassen. Man müsste als Autor all | |
seine Subtilität, all seinen Witz und Erfindungsreichtum aufwenden. Aber es | |
wäre lohnend. Den Chef möchte man sehen, der es mit Lena Dunham und ihrer | |
frechen Schnauze aufnimmt. Einen Masterplan mag er ja haben, aber hat er | |
dazu auch die nötige Geistesgegenwart? Und zugleich sieht man bei „Girls“ | |
eben auch den Wettbewerb, in den wiederum die großen Internetfirmen | |
stecken. | |
Es geht um Coolness und um eine gnadenlose Ökonomie der Aufmerksamkeit. | |
Wenn sie den Kontakt zu den Lena Dunhams dieser Welt verlieren, können die | |
großen Firmen aus all ihren schicken Glaspalästen und runden Zentralen | |
nämlich gleich wieder ausziehen. Und das wissen sie auch. | |
Wer also ist Mae Holland? Vorerst vielleicht nur ein Platzhalter für ein | |
besseres Erzählmodell. Aber er lohnt sich, sich jetzt schon über sie | |
Gedanken zu machen. „Circle“ sei der Roman der Stunde, wurde gesagt. Aber | |
das stimmt eben nicht, weil Mae Holland nicht auf der Höhe der Zeit ist. | |
Das Buch der Stunde wäre ein Roman, der ihre Geschichte richtig und mit | |
allen Ambivalenzen erzählt. Wie sie ins Herz der digitalen Welt gerät, | |
welche Menschen sie dort trifft und was sie dabei erlebt. Dieses Buch | |
bleibt zu schreiben. | |
17 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
## TAGS | |
Internet | |
Wellness | |
Shortlist | |
Roman | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Buch „Das Wellness-Syndrom“: Sei glücklich, verdammt | |
Wieso sind wir eigentlich alle so ego? Carl Cederström und André Spicer | |
sezieren die Anatomie von Glücksdoktrin und Selbstoptimierung. | |
Stortlist für den Buchpreis: Jeder Mensch eine Insel | |
Was soll ein gegenwärtiges Schreiben denn ausmachen? Laut der Shortlist ist | |
diese Frage schon entschieden: Sie setzt auf Außenseitergeschichten. | |
Dave Eggers neuer Roman „Circle“: Des Internetkritikers neue Kleider | |
Groß angekündigt war eine brillante Analyse der Kehrseiten der | |
digitalisierten Welt. Herausgekommen ist ein flacher Roman über simple | |
Menschen. |