| # taz.de -- Stortlist für den Buchpreis: Jeder Mensch eine Insel | |
| > Was soll ein gegenwärtiges Schreiben denn ausmachen? Laut der Shortlist | |
| > ist diese Frage schon entschieden: Sie setzt auf Außenseitergeschichten. | |
| Bild: Keine Lese-Insel im Buchladen, sondern eine Hallig | |
| BERLIN taz | In vielen großen Buchhandlungen finden sich sogenannte | |
| Lese-Inseln. Sie sollen den Kunden einen Ort der Ruhe, eine Idylle jenseits | |
| von Hast und Getriebenheit vermitteln. Das passt jetzt auch gut zum | |
| Deutschen Buchpreis. Zwei der sechs Romane auf der Shortlist spielen auf | |
| Inseln – und das sind auch gleich die beiden Favoriten. Allerdings sind es | |
| prekäre Idyllen, die in ihnen geschildert werden. | |
| Lutz Seilers Roman „Kruso“ spielt auf Hiddensee – die Ostseeinsel mit ihr… | |
| Steilküsten und ihrem Leuchtturm erscheint darin als der Ort, an dem man | |
| sich am weitesten aus der Realität der DDR herausdrücken konnte. Wer hier | |
| lebt, ist bei Seiler per se dissidentisch – nicht zufällig gibt der bislang | |
| durch Gedichte und Kurzgeschichten bekannt gewordene Autor seiner | |
| Zentralfigur Alexander Krusowitsch, genannt Kruso, indianische Züge. | |
| Thomas Hettches Roman „Pfaueninsel“ spielt dagegen auf der titelgebenden, | |
| 67 Hektar großen Insel in der Havel zwischen Berlin und Potsdam, die die | |
| preußischen Könige als paradiesisches Refugium ausgestaltet haben. Zwischen | |
| den Romanen lassen sich vielfältige Bezüge herstellen. In beiden Büchern | |
| wird Weltgeschichte vom Rande her erzählt. Außerdem stellen beide Romane | |
| Außenseiter in den Mittelpunkt. Die Hauptfigur von „Pfaueninsel“ ist eine | |
| Kleinwüchsige, die auf die Insel verbracht wurde, um des malerischen | |
| Kolorits willen. | |
| Die Insellage auch im höheren Sinne – ist das jetzt ein literarischer | |
| Trend? Lutz Seiler nutzt, sprachlich bis zur Bockigkeit hochgerüstet, das | |
| Thema der mehr oder minder gewollten Randständigkeit, um eine späte | |
| Ost-Identität aufleben zu lassen. Hettche baut in die Distanz zur Weltlage | |
| kühle essayistische Betrachtungen über Schönheitsideale und Pflanzenzucht | |
| ein. Das machen beide jeweils gekonnt. Es wäre aber tendenziös, die | |
| inszenierte Randlage als Kennzeichen der gesamten aktuellen | |
| deutschsprachigen Literatur hochzurechnen. | |
| ## Gestrandete Bewohner | |
| Um die Spannungslinien festzumachen, die die deutsche Literatur insgesamt | |
| umtreiben, muss man aktuelle Romane hinzunehmen, die aus dem Rennen um den | |
| Buchpreis leider längst herausgefallen sind. Hochinteressant ist es etwa, | |
| Michael Kleebergs Roman „Vaterjahre“ neben Seilers „Kruso“ zu lesen. | |
| Kleeberg erzählt von einer Situation, in der das Identitätsstiftende, das | |
| der Ost-West-Gegensatz auf beiden Seiten hatte, längst weggefallen ist. Die | |
| Ambivalenzen von Selbstbestimmung und Selbstverantwortung gehen in den | |
| „Vaterjahren“ durch alle Figuren hindurch. Dagegen wirkt „Kruso“ gerade… | |
| sentimental. | |
| Und neben Hettches „Pfaueninsel“ lohnt es sich, Nino Haratischwilis Roman | |
| „Das achte Leben“ mit auf die Lese-Insel zu nehmen. Nicht nur weil in ihm | |
| der deutsche Kosmos überschritten wird: Haratischwili erzählt auf Deutsch | |
| von hundert Jahren georgischer Geschichte; sondern auch weil bei ihr | |
| direktere, nah an der Oral History gebaute Möglichkeiten des historischen | |
| Romans zur Geltung kommen. | |
| Irgendwelche eigenen Favoriten fehlen Literaturkritikern auf solchen Listen | |
| immer, mag sein. Aber diesmal ist es besonders schade. Mit Seilers | |
| gestrandeten Inselbewohnern hier und Kleebergs Mittelklassemenschen dort | |
| hätte man sich gut fragen können, was ein gegenwärtiges Schreiben denn nun | |
| ausmachen soll. Für die Liste ist diese Frage jetzt schon vorentschieden: | |
| Sie setzt von vornherein auf Außenseitergeschichten. | |
| Angelika Klüssendorfs Roman „April“ passt in diesen Befund gut hinein. Es | |
| ist eine Coming-of-Age-Geschichte in der DDR, in der so akribisch wie meist | |
| düster ein Einzelschicksal im Kollektivstaat literarisch zum Leben erweckt | |
| wird – jeder Mensch ist eine Insel. | |
| ## Empathie und Distanz | |
| Auch Thomas Melle beschreibt Außenseiter. Zugleich kommt ihm die Rolle zu, | |
| als doppeltes Gegengewicht zu dienen. Er ist auf der Shortlist so etwas wie | |
| der Quotengegenwartsbezug, und sein Roman „3000 Euro“ bringt eine | |
| Direktheit auf die Liste, die einen geradezu durchatmen lässt. | |
| „3000 Euro“ erzählt ein aktuelles politisches Märchen. Ein bankrotter | |
| junger Mann braucht sehr schnell 3.000 Euro. Eine Kassiererin an der | |
| Supermarktkasse soll 3.000 Euro für einen Porno bekommen, bei dem sie, um | |
| das mal auszuprobieren, mitgemacht hat. Die beiden lernen sich kennen, und | |
| die Frage ist nun, ob sie ihn mit dem Geld retten wird. Diese Geschichte | |
| erzählt Thomas Melle mit Empathie, aber ohne sich mit seinen Figuren gemein | |
| zu machen. | |
| Heinrich Steinfests pointenlastiger Roman „Der Allesforscher“ und Gertrud | |
| Leuteneggers „Panischer Frühling“ komplettieren die Liste. Mit der | |
| Nominierung der 1948 geborenen Gertrud Leutenegger zeigt der Buchpreis, was | |
| er kann: einem fein gearbeiteten, stimmungsvollen Buch die Chance aufs | |
| große Rampenlicht geben. Auch im „Panischen Frühling“ ist eine Insel | |
| wichtig. Mit dem Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull geht es | |
| los. | |
| 10 Sep 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Dirk Knipphals | |
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