Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Newsletter als Literatur: Post von Gott
> „Low Fidelity. Hans E. Plattes Briefe gegen den Mainstream“, die irren
> Werbetexte von Gereon Klug erscheinen nun als Buch.
Bild: Gereon Klug.
Vier Gütegrade von Gelächter charakterisierte der US-Schriftsteller und
Filmkritiker James Agee einmal als mögliche Reaktionsmuster auf die Gags
von Komikern der Stummfilmära: von Giggeln über Gekicher und herzhaftes
Lachen bis zum dröhnenden Gelächter. Während Giggeln Gekicher sei, das
wegrenne, so Agee, sei dröhnendes Gelächter imstande „zu töten“.
Niemand muss sterben, aber gelacht wird bei den Texten des Hamburgers
Gereon Klug reichlich. Klugs Humor ist brachial, das heißt auf schamlose
Weise aufdringlich und distanzlos. Dass seine Direktheit aber nie hohl
wirkt, ist purer Verzweiflung geschuldet, denn Klugs Witz entsteht auch
über den Umweg der Popmusik, die er eigentlich liebt, aber selbst lieber
nicht beschreiben mag.
„Worte sind für mich eine sehr direkte Art, jemand etwas zu verhökern“,
schreibt Klug in einem seiner Newsletter, die nun in gebündelter Form unter
dem Titel „Low Fidelity. Hans E. Plattes Briefe gegen den Mainstream“
veröffentlicht werden. Exakt: Newsletter, diese publizistische No-Go-Area,
per E-Mail versandt und bei Klug meist mit einer abenteuerlichen, knapp
unterhalb von Spam angesiedelten Betreffzeile versehen, etwa „Post von
Gott“, oder „Patentverdächtig“.
Der Dauerimperativ aus Erlebnisurlaubsanimation,
Butterfahrtenmikrofonbetreuung, Marketingtricks an der Supermarktkasse und
pseudopersönlicher Anrede sind seine bevorzugten Stilmittel.
Zwischen 2006 und 2012 leitete Klug „Hanseplatte“ in Hamburg, ein Geschäft,
in dem ausschließlich Produkte lokaler Künstler verkauft werden. Mitten in
der Dauerkrise der Plattenindustrie erwies sich das auf Backkatalogpflege
und persönliche Beziehungen spezialisierte Geschäft mit der lokalen Musik
als überlebensfähig.
Dazu beigetragen haben auch Klugs unter dem Signet Hans E. Platte
wöchentlich versandte irre Newsletter. „Ich wollte der Musik keinen Schaden
zufügen, in dem ich sie en passant darin bewerte“, erläutert Klug beim
Gespräch im Hamburger Stadtteil St. Georg seine Philosophie, höheren
Blödsinn zu schreiben, anstatt Promotion für das Tonträgersortiment zu
machen.
## In Siegen gibt es nichts Lustiges
Entwickelt hat sich Klugs Lingo in der westdeutschen Provinzstadt Siegen
(„Da gibt es nichts Lustiges“). Überlebenswichtig sei die Lektüre alter
Mad-Hefte gewesen, einst von Herbert Feuerstein redaktionell betreut. Und
vor allem Popmusik. "Meine erste Platte war das Debütalbum von Trio. Die
habe ich zusammen mit einem Plattenspieler geschenkt bekommen. Danach kamen
viel schrecklichere Sachen. Aber auch Hitparaden hören, Listen schreiben,
Charts analysieren, warum jemand von Platz 8 in den englischen Charts auf
Platz 23 in den deutschen Charts abstürzte. Wieso das Cover der Maxi aus
Amerika dicker ist. Rätselraten hat wahnsinnig viel Spaß gebracht." Dass
ein Musikliebhaber wie Klug später einmal einen Plattenladen führen würde,
scheint unvermeidlich gewesen zu sein.
„Wie sähe Hitler jetzt aus, wenn er 22 wäre, so n Berlinbart hätte und was
mit Medien machen wollen würde?“ ist die Frage, die Hans E. Platte am Ende
eines Newsletters mit der Betreffzeile „Denkanstöße für die KW 29“
umtreibt. Und tatsächlich reagierten die Adressaten der Newsletter,
meldeten sich mit Antworten auf solche und andere unsägliche Fragen zurück.
Klug kam Anfang der Neunziger via Göttingen nach Hamburg und landete, da er
einige Hamburger Musiker persönlich kannte, in Sankt Pauli. Für Klug „ein
verheißungsvoller Ort, mit großer künstlerischer Freiheit, aber auch großer
Stilsicherheit“. Berlin sei durchaus eine Option gewesen. „Blixa Bargeld,
Nick Cave. Dark Wave. Sadomaso und Latex. Aber für mich war Hamburg die
sympathischere Metropole.“
## Reizklima Pudelcub
Dem Sänger Rocko Schamoni organisierte Klug Tourneen, später machte er für
den Pudelclub Öffentlichkeitsarbeit und betrieb mit dem Booker und DJ Ralf
Köster das Label Pudel Produkte. Der Pudelclub und sein Reizklima seien
einzigartig, erklärt Klug. „In der Konsequenz, mit der Ausgehen im Pudel
betrieben wird, macht das sonst niemand.“ Im Umfeld des Clubs gibt es seit
je ein eigenes Referenzsystem von Einflüssen: Musik, Filme und Bücher
zirkulieren meist quer liegend zu den Diskursen und Debatten in den
Massenmedien. Klug nennt den vergessenen frühexpressionistischen
Schriftsteller und Erfinder des Glasbausteins, Paul Scheerbart, und dessen
Gabe, in seinen Texten alles auf den Kopf zu stellen.
In einem Newsletter zum 1. April 2012 meldet Klug „mit einer Träne im
Knopfloch des Troyers“, dass die Zelte der Hanseplatte in Hamburg
abgebrochen und in Berlin wiederaufgebaut werden. Die Frage, was in der
Leerstandsphase mit dem Hamburger Laden geschehen soll, erregte damals die
Gemüter. „Gegen den Mainstream“ bedeute bei „Hanseplatte“ „ungewöhn…
verpacktes Material und die etwas andere Art, es zu vermarkten“.
Erfahrungen in der Welt der Werbung hat Klug inzwischen tatsächlich
gesammelt. „Ich wusste nicht, dass diese Menschen eigentlich lieber was
anderes arbeiten würden und ihre Arbeit selbst missachten. Wenn du einen
aus der Werbung fragst, wird er sofort sagen, dass er eigentlich noch ein
Buch schreibt, Theater macht, oder Musik. Das fand ich faszinierend und
gleichzeitig abstoßend.“ Klug erfand in der
Designproduktentwicklungsabteilung einer Hamburger Agentur das erste
essbare Kochbuch der Welt. Es wurde preisgekrönt.
## Dicker Arsch
Die Innovation „Hanseplatte“ und Klugs Newsletter blieben bisher ohne
Auszeichnungen. Und doch wird der Laden für Musikdevotionalien aus Hamburg
inzwischen auch vom Fremdenverkehrsamt der Hansestadt gern gesehen. „Ja,
wir haben uns mit unserem kleinen dicken Arsch auf das Thema Stadtmarketing
draufgesetzt“, gibt Klug zu.
Dass die Tourismusindustrie allerdings direkt von seinen Ideen Gewinne
abschöpfen kann, ist eher unwahrscheinlich. Schließlich funktionierte Klug
den Newsletter gegen die Gebrauchsanleitung zu einer Spielwiese der freien
Form um. Bevor zu erfahren ist, wann eine neue Tocotronic-Single in den
Handel kommt, muss man erst mal lesen, was die Musiker der Hamburger Schule
reden würden, wenn sie im Big-Brother-Container eingekerkert wären. Auch
der TV-Koch Tim Mälzer taucht mit einer "Gastkolumne" auf, von Klug
geringfügig geändert, in der das Wort "Essen" durch das Wort "Musik"
ersetzt ist.
Ständig nerven Reality-TV-Anleihen und werfen Passagen aus
Pressemitteilungen den Plot durcheinander. Aber aus diesem umgekippten
Wörtersee kreiert Klug durch wüste Rekombination erst sein psychedelisches
Schlachtengemälde. Bis unkenntlich ist, was vermeintlich oder wirklich
gesagt wurde, sinnlose Absätze neue Zusammenhänge stiften und Satzzeichen
die Grammatik der Faktenhierarchie zum Kippen bringen. "Hier unsere
,Neuigkeiten' (tagesschau.de) - alles dabei! ,Indie, Punk, Literatur,
Krautrock und Reggae' (amazon). Die ,sympathisch kritische' (Bild)
,Vorzeigeaktivistin und Theatermusikerin' (FAZ)."
"Kommerz ist nur dafür gut, dass es noch mehr Geld gibt", sagt der
45-Jährige. "Wir müssen damit unsere Leute ernähren, den Laden finanzieren.
Aber im Kommerz liegt keine Subversion. Wir sind teurer als das a-Schwein
aus Luxemburg. Gegen das haben wir keine Chance. Der Laden funktioniert
nur, weil Kunden durch andere Anreize überzeugt werden, bei uns kommerziell
tätig zu werden, als über den günstigen Preis. Das habe ich mit den
Newslettern eben auch formuliert."
Klug schreibt seitenweise "verworfene Slogans", lässt abgegriffene
Formulierungen fallen. Führt fiktive Umfragen zu den neuesten Trends der
Jugendkultur mit verbotenen Fragen durch: "Wo bekommt man noch Spürung?"
Und verabschiedet sich floskelreich von den Lesern "Mit vor Sinneslust
geschwollenen Grüßen". "Anpreisungssprache ist kontaminiert mit
vermeintlicher Bedeutungslosigkeit: Die, die im Mainstream, der Politik
oder im Alltag das Wort führen, glauben ja, dass sie Gehalt, Sinn und Werte
stiften."
## Linker Popper
Mit den Newslettern gelingen Klug gute Pointen, was wiederum mit seiner
Liebe zur Musik zu tun hat. "Ich bin ein linker Popper. An Punk hat mich
der politische und ästhetische Gedanke mehr interessiert als die Musik
selbst. Als klassisch britisch geprägter Pophörer ist mir die Hookline das
Wichtigste."
"Von den Machern des Kapitalismus empfohlen" steht auf dem geschmackssicher
von Klug ausgewählten Album, das begleitend zum Buch veröffentlicht wird.
Dort finden sich unveröffentlichte Aufnahmen von Klugs liebsten Hamburger
Künstlern, mit einer Schlagseite zu elektronischen Kleinoden von DJ Kotze
oder Frau Kraushaar. "Outtakes, Bückware, Quengelware." Sagt Klug. Das
Material ist tatsächlich unveröffentlicht, rar, merkwürdig und hat
teilweise miese Tonqualität. Schön.
31 Aug 2014
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Pudelclub
Hamburg
Hamburg
Expressionismus
Literatur
Rocko Schamoni
Kopenhagen
Pop
Rolling Stones
## ARTIKEL ZUM THEMA
Romandebüt und Album der Gruppe Oil: Kunst mag ich, Künstler nicht
Klotzen statt kleckern: In der Berliner Fahimi Bar präsentierte die Gruppe
Oil ihr Debütalbum und den gleichnamigen Roman „Naturtrüb“.
Premiere vom Musical „König der Möwen“: Rentner mit Vögeln anlocken
„König der Möwen“ ist das irre komische Musical von Andreas Dorau und
Gereon Klug. Es wirft ein Schlaglicht auf die hanseatische Indie-Identität.
Weltuntergangstriptychon auf der Bühne: Erschreckende Prognose
In Göttingen wird Georg Krieger wiederentdeckt: Das Theater-Triptychon
entwirft ein düsteres Bild kapitalistischer Entwicklung.
Stortlist für den Buchpreis: Jeder Mensch eine Insel
Was soll ein gegenwärtiges Schreiben denn ausmachen? Laut der Shortlist ist
diese Frage schon entschieden: Sie setzt auf Außenseitergeschichten.
Rocko Schamoni in Berlin: Persönliche Evergreens
Unterhaltung statt Diskurspop: Bei seinem Konzert in Berlin wird Rocko
Schamoni mit Lieblingssongs und großem Orchester nostalgisch.
Kopenhagen Jazz Festival: Evolution der Klänge
Wo einst der Müll deponiert wurde, wird jetzt am „Future Sound of Jazz“
gearbeitet: Der Weiterentwicklung des Jazz galten viele Konzerte in
Kopenhagen.
Künstler Jeremy Deller: „Subkulturell bin ich Spätentwickler“
Inszeniert zwischen Pop und Kunst: Der britische Künstler Jeremy Deller
über Geschichte, Arbeiterkultur und sein besonderes Verständnis von
Blaskapellen.
Stones-Konzert 1965 in der Waldbühne: „Een Irrsinn war det“
Die rechte Presse geiferte, die Fans randalierten. 1965 traten die Rolling
Stones erstmals in der BRD auf. Bommi Baumann war in der Waldbühne dabei.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.