# taz.de -- Weltuntergangstriptychon auf der Bühne: Erschreckende Prognose | |
> In Göttingen wird Georg Krieger wiederentdeckt: Das Theater-Triptychon | |
> entwirft ein düsteres Bild kapitalistischer Entwicklung. | |
Bild: Formelhafte Typen: Fürs revolutionäre Subjekt hat Georg Kaiser keinen P… | |
BREMEN taz | Realismus, nein danke! „Und schon gar nicht dies Geschnattere | |
der Gegenwartsautoren, mit dem sie behaupten, so würden Menschen heute | |
reden“, bezieht Regisseur Maik Priebe Stellung. „Ich will wahnsinnig | |
sprachmächtige Stücke“, fordert er. „Außer Elfriede Jelinek, Dea Loher u… | |
mit Abstrichen Roland Schimmelpfennig kann das doch keiner mehr.“ | |
Priebes Dramenfaszination schweift deswegen rund 100 Jahre zurück. Der | |
38-Jährige liebt Hans Henny Jahnn, dessen Werke immerhin ab und an das | |
deutsche Stadttheaterlicht erblicken. Er schätzt Ernst Barlach, der keine | |
Aufführungslobby mehr hat. Und will unbedingt Georg Kaiser wiederentdecken. | |
Dazu bietet ihm das Deutsche Theater Göttingen nun die Chance. Am heutigen | |
Samstag bringt Priebe Kaisers drei Generationen umspannendes Familienepos | |
zur Premiere. Entstanden sind [1][“Die Koralle“, „Gas 1“ und „Gas 2�… | |
zwischen 1916 und 1920 als Reaktion auf das industrielle Massenmorden des | |
Ersten Weltkriegs - ein von expressionistischer Unruhe durchpulstes | |
Weltuntergangstriptychon. „Kaisers Opus magnum“, schwärmt Priebe, „ein | |
extrem politischer Brocken.“ | |
Um einen prototypischen Unternehmer drehen sich die Stücke. Der hat eine | |
Geschäftsidee und ist ausreichend rücksichtslos, sie radikal durchzuziehen. | |
Schließlich stellt er als Gasmonopolist die Energieversorgung der ganzen | |
Welt sicher, wird reicher und reicher. Ein Mogul ist geboren, ein | |
klassischer Ausbeuter, Machtmensch, Unterjocher. | |
Alle Figuren Kaisers sind so ins Formelhafte gesetzt: Typen. Sie haben | |
keine Namen, heißen Milliardär, Sohn, Tochter oder Ingenieur. Aber im | |
korallenharten ersten Teil des Werks gibt es zumindest noch Anklänge an den | |
Psychologismus eines Strindberg oder Ibsen. | |
Dort will Priebe auch ästhetisch anknüpfen, ganz dezent kammerspielartig. | |
Aber wie umgehen mit dieser Sprache: mal poetisch weich, mal pointiert | |
hart, immer kurzatmig gehetzt komponiert? Soll man sie expressiv loslodern | |
lassen - oder sachlich rezitieren? | |
Gerade die Künstlichkeit produziere eine Distanz zum Publikum, die | |
Assoziationen und Mitdenken erst ermögliche, ist Priebe überzeugt. Kaiser | |
sei da mit Brechts Anti-Einfühlungsdramatik auf Augenhöhe, findet er. Um | |
das zu betonen, fordert er von seinen Darstellern die Trennung von | |
Körpersprache und gesprochenem Wort. | |
Wenn der Fabrikantensohn beispielsweise erkennt, dass das Gasimperium | |
einerseits das Wirtschaftswachstum befeuert, anderseits aber die Arbeiter | |
zu Vollstreckern und Opfern der Produktion, also immer entmenschter werden, | |
„dann trägt er die Analyse extrem scharfsinnig, selbstbewusst sachlich | |
vor“, verrät Priebe. Seine Haltung aber, schlurfend gekrümmt, widerspreche | |
der disziplinierten Überlegenheit. | |
Um den Rücken wieder geradezubiegen, lässt er die Arbeiter am Gewinn des | |
nun vergesellschafteten Unternehmens teilhaben. Mit der Folge, dass sie | |
noch mehr produzieren, weil sie so noch mehr Geld einstreichen können. Das | |
System, die Gaswerke, bringt diese Gier indes zur Explosion. | |
Nach dem Wiederaufbau werden sie verstaatlicht. Es ist Krieg: statt | |
Gasvolumina werden nun Gaswaffen produziert. Kaisers Thesentheater ist | |
bekannt für solche Denkspiele. „Und liefert in diesem Fall eine | |
hellsichtige Prognose unseres heutigen Lebens- und Wirtschaftsprinzips“, | |
meint Priebe. Deutlich werde dabei auch das Scheitern der Alternativen. | |
Der Mensch, als revolutionäres Subjekt taugt er also nicht? „Der | |
Sozialismus ist erst mal eine interessante Idee“, meint Priebe. „Aber die | |
Menschen sind dafür eben nicht gemacht. Anstatt aus der Geschichte zu | |
lernen, machen sie einfach weiter“, sagt er. Und machten alles noch | |
schlimmer. | |
Aber gibt es nicht einen Unterschied zwischen dem Industriekapitalismus, | |
den Kaiser beschreibt, und der heutigen globalisierten Variante? „Der ist | |
marginal“, findet Priebe. Den zweiten Teil des Abends will er deshalb im | |
sozialistischen Agitpropstil inszenieren. Zunehmend werde das Stückpersonal | |
zu Chören gruppiert, agiere schließlich als „marodierende Masse“. | |
Der dritte Teil dann: Krieg in einer abstrakten Form, Blau kämpft gegen | |
Gelb. Apokalyptisch geht es zu, durch ein Meer von Videobildern kröchen | |
vermummte Figuren, erzählt der Regisseur. Erinnerungen an Tschernobyl, | |
Fukushima und aktuelle Giftgasangriffe in Syrien würden wachgerufen. | |
Rot glüht so der narrative Faden des Stationendramas: Der lernbehinderte | |
Mensch strebt hinaus aufs freie Feld seiner Ideen, gerät hinein in den | |
Dschungel der Verwirklichung, stürzt hinab in den Tod. Und am Horizont | |
nicht ein Hoffnungsschimmer? Priebe winkt ab: „Nein, absolut nein!“ | |
Premiere: Sa, 13. 6., 19.45 Uhr, [2][Deutsches Theater Göttingen]. Weitere | |
Aufführungen: 19. 6., 24. 6., 7. 7., 14. 7. und 20. 7. | |
14 Jun 2015 | |
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[1] http://www.dt-goettingen.de/stueck/gas/ | |
[2] http://www.dt-goettingen.de/ | |
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