Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Der Erste Weltkrieg im Theater: Das nackte Überleben
> Im Gedenkjahr 2014 ist der Erste Weltkrieg auch an den Theatern ein
> Thema. Vor allem „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque wird
> adaptiert.
Bild: „Im Westen nichts Neues“ wird in Hannover als Materialschlacht inszen…
Wie könnte ein Mahnmal für den unbekannten Soldaten heute aussehen? Wie die
riesige Metallwand in Luk Percevals Theaterinszenierung „Front“ am Thalia
Theater Hamburg zum Beispiel. Mächtig klotzt sie in die Höhe: Hunderte
zusammengeschweißte Zinn- und Stahlkacheln, die ein Musiker während der
Vorstellung live bearbeitet. Metallisches Quietschen, Schleifen, Wimmern
wird entlockt. Apokalyptische Laute, die an diesem Abend nie verstummen und
als Soundtrack die gesprochenen Frontberichte begleiten.
Auch elf Schauspieler spielen in diesem Kriegsrequiem. Anfangs kommen sie
wie Musiker auf die Bühne, knipsen an Notenständern Leselampen ein, als
seien sie Teil einer Klangpolyphonie. Oft aber stieren ihre Blicke
hochkonzentriert lauschend nach vorne, als würden sie kaum sehen, doch
genau hören, welches Grauen in all diesen Klängen lauert. Dann geben sie im
Stimmengewirr wieder selbst Zeugnis ab, erzählen von Alltag und Not in den
Schützengräben.
„Front“ ist das ambitionierteste, aber nicht das einzige Theaterprojekt zum
Ersten Weltkrieg. Im Gedenkjahr 2014 beschäftigen sich viele Bühnen mit dem
katastrophalen Krieg, in dem 17 Millionen Menschen starben. Er tritt damit
in der Aufmerksamkeit aus dem Schatten des Zweiten Weltkriegs heraus.
Das Schauspielprogramm der Salzburger Festspiele zeigte in diesem Sommer
ausschließlich Stoffe zu dem Thema. In diesem Herbst stehen Adaptionen von
Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ in Hannover, Göttingen,
Karlsruhe, Braunschweig auf den Spielplänen.
## Auszüge aus Zeitdokumenten verwendet
Auch Regisseur Luk Perceval und seine Dramaturgen haben in Hamburg für ihre
„Front“-Textcollage Auszüge aus Zeitdokumenten verwendet, aus Henri
Barbusses „Das Feuer“ und vor allem aus Remarques autobiografisch
angelehntem Weltkriegsroman. Was dort ungeschönt beschrieben ist, wiegt
schwer und ist realistisch kaum spielbar: die Schreie der Verwundeten, das
Sterben, der Dreck in den Schützengräben, zunehmende innere Verwirrung.
In der Direktheit spürt man, dass all das beglaubigt ist – Remarque kämpfte
im Juni 1917 selbst an der Westfront und verbrachte nach schwerer
Verletzung über ein Jahr im Lazarett. Sachlich, aber mit großer epischer
Kraft hat er Kriegserlebnisse fiktionalisiert. Eine Qualität, die den
Bühnenadaptionen von „Im Westen nicht Neues“ in die Hände spielt.
Ein Genregesetz des Theaters besagt: Krieg lässt sich nicht eins zu eins
darstellen. Statt eines „als ob“ muss man auf andere Mittel zurückgreifen.
Aufwendiger Material-, Klang- und Kunstbluteinsatz kann als Ersatzstoff
helfen, gerät oft aber auch zum unkalkulierbaren Balanceakt. Percevals
„Front“ und Lars-Ole Walburgs Remarque-Inszenierung am Schauspiel Hannover
scheuen das Risiko nicht, setzen auf große Assoziations-, Klang- und
Klageräume, in denen das Leid des Einzelnen nicht untergeht, sondern
gezielt nach vorne geschickt wird.
## Mit dem unschuldigen Furor jugendlicher Steinewerfer
Walburg lässt „Im Westen nicht Neues“ in einem schneeweißen stilisierten
Kaiserreichssalon spielen. Gegen diese Intaktheit der bürgerlichen Welt
werden der Dreck, die Erschöpfung und Aussichtslosigkeit gestellt, anfangs
mit kalkulierter Künstlichkeit. Denn bald knallen die fünf Schauspieler
gefüllte Farbbeutel und -eimer an die Wände, Attacken, die mit dem
unschuldigen Furor jugendlicher Steinewerfer ausgeführt werden.
Eigenhändig verwischen sie die rote und schwarze Farbe zu bräunlichem
Schlamm. Verschmierte Körper hinterlassen Spuren an den Wänden, zugleich
Täter- und Opferabdrücke. Eine Besudelung, die zur Verdichtung wird. Eine
Materialschlacht, die in ihrer zunehmenden Körperlichkeit realistische Züge
gewinnt.
Am Ende gleicht das Bühnenbild einem Action-Painting-Schlachtbild, das weit
über den Theaterraum herausreicht. Man denkt unweigerlich an die von der
Artillerie zerschossenen Landschaften bei Verdun, die den Oberflächen
fremder Planeten gleichen, aber auch an die vielen Künstler und Maler, die
im Krieg ihr Leben verloren oder mit versehrten Körpern zurückkehrten.
## Die Stiefel der Soldaten
Der groß gezogene Rahmen verleiht den Kriegsalltagsszenen doppelte Kraft,
die von den Schauspielern zwischendurch mehr erzählt als gespielt werden.
Die Stiefel der Soldaten sind ein wiederkehrendes Thema, im Morast der
Front sind sie so wertvoll, dass man sie im Lazarett den Sterbenden
stiehlt. Selbsterhaltung, Egoismus, der Drang nach Schlaf, Essen, Trinken,
davon ist immer wieder die Rede. Das nackte Überleben ist im Krieg das
Naheliegende, das hebt die Inszenierung hervor.
Politischer Verstand lässt sich anhand von Walburgs oder Percevals Arbeit
nicht schärfen. Jedenfalls nicht im Sinne der jüngst in der Öffentlichkeit
entfachten Diskussion über Schuld, Versagen und Binnenlogik des Ersten
Weltkriegs, die vor allem Christopher Clarkes Buch „Die Schlafwandler“ mit
der neu erzählten Vorgeschichte bis 1914 ausgelöst hat.
Eine andere Diskussionslinie gilt dem Schrecken dieses ersten modernen
Kriegs. Die Männer in den Schützengräben wurden eingeholt von der
industriellen Revolution der Rüstungstechnik, sodass Kavalleristen zu Pferd
gegen Maschinengewehre aufmarschierten, Soldaten zu Fuß plötzlich Panzern
gegenüberstanden.
## Im Dauergewitter der Klangcollage
An die daraus folgenden zermürbenden Stellungs- und Grabenkriege docken die
Theaterarbeiten an. Geben den Hauptleidtragenden eine Stimme. Gleichzeitig
lösen sich die Theaterbilder von der Geschichtsrealität. Zeitlose Figuren
stehen dort, die desillusioniert und bar aller patriotischen Gefühle
kämpfen, um zu überleben. Das ist der Blick in einen Nahbereich, der
allgemein gültigere Bezüge möglich macht und Krieg nicht historisch
erzählt. Und auch eine abstrakte Körperlichmachung von Krieg im
Dauergewitter der Klangcollage oder im rutschenden Farbmatsch.
Luk Perceval hat „Front“ mit elf internationalen Schauspielern besetzt,
deutsch-, flämisch-, französisch- und englischsprachig. Die
Sprachverwirrung ist Konzept. In einer Reihe stehen sie auf der Bühne, eine
geschlossene Front, Sinnbild für grenzüberschreitendes Leid.
Mit dieser hehren Botschaft ist der Abend, eine Koproduktion des Thalia
Theaters Hamburg und des belgischen NT Gent, in etliche europäische Städte
gereist, dreißig sollen es bis zum Frühjahr insgesamt werden. Auch in
Sarajevo, dem Ort, wo das Attentat auf den österreichischen Thronfolger
einst den Krieg auslöste, war ein Gastspiel zu sehen.
Vor dem Berliner Schloss Bellevue wurde auf Einladung des Bundespräsidenten
eine Kurzversion vor 400 geladenen Gästen aus Politik und Wirtschaft
gezeigt. Adressaten, bei denen man sich mit seinem reisenden Mahnmal
richtig fühlte, heißt es aus dem Theater. So trägt es seinen Teil zur
Erinnerungsarbeit bei.
3 Nov 2014
## AUTOREN
Simone Kaempf
## TAGS
Schwerpunkt Erster Weltkrieg
Theater
Schwerpunkt Erster Weltkrieg
Expressionismus
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Elfriede Jelinek
## ARTIKEL ZUM THEMA
Weltuntergangstriptychon auf der Bühne: Erschreckende Prognose
In Göttingen wird Georg Krieger wiederentdeckt: Das Theater-Triptychon
entwirft ein düsteres Bild kapitalistischer Entwicklung.
„Zu jung zu alt zu deutsch“: Die Schuld als Identitätskern
Regisseur Nick Hartnagel destilliert am Staatstheater Hannover Klischees
aus aktuellen Auseinandersetzungen mit dem Nationalismus.
Remarque-Hörspiel: Nur eine Episode des ewigen Krieges
Radio Bremen hat „Im Westen nichts Neues“ erstmals als Hörspiel inszeniert.
Eine ungewöhnlich späte Ehrung – die auf jede Aktualität verzichtet.
Jelinek-Inszenierungen in Hamburg: So eine Art deutsches Wesen
Zweimal Elfriede Jelinek zum Thema Migration: Was man hierzulande
Flüchtlingen abverlangt, ist Deutschen in der Ferne nicht zuzumuten.
Terrorismus im Theater: Windungen einer Wahrheitssuche
So schnell wie eine Politthriller-Verfilmung: Das Berliner Maxim Gorki
Theater bringt Yassin Musharbashs Terror-Roman „Radikal" auf die Bühne.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.