# taz.de -- Jelinek-Inszenierungen in Hamburg: So eine Art deutsches Wesen | |
> Zweimal Elfriede Jelinek zum Thema Migration: Was man hierzulande | |
> Flüchtlingen abverlangt, ist Deutschen in der Ferne nicht zuzumuten. | |
Bild: Szenenbild aus der Inszenierung „Die Schutzbefohlenen“. | |
Integration ist Ausgrenzung. Was steht anderes hinter den Forderungen nach | |
harmonischem Miteinander, gegenseitigem Respekt und Anpassungsfähigkeit, | |
als dass die Flüchtlinge, die Europas Außengrenzen überwinden, sich Regeln | |
unterwerfen müssen? Regeln, die intransparent bleiben und gerade nicht auf | |
das beschworene Miteinander zielen. Zynismus, natürlich. Durch den muss man | |
in Elfriede Jelineks Theaterstück „Die Schutzbefohlenen“, das nach der | |
Eröffnungspremiere beim Festival Theater der Welt in Mannheim nun auf dem | |
Spielplan des Hamburger Thalia Theaters steht. | |
Die österreichische Autorin verleiht darin Flüchtlingen eine Stimme. | |
Denjenigen, die mit ihrem Wunsch nach Sicherheit, Menschenwürde, Wohlstand | |
auf ein politisch-bürokratisches System stoßen. Das mehrstimmige | |
Textkonvolut ist aufgeladen mit zeitlosen Motiven aus der Antike, aber auch | |
mit vielen Realitätsbezügen: Die Toten im Mittelmeer vor Lampedusa, | |
Asylsuchende, die bei ihren Protestversuchen in die Kirche flüchten wie | |
2012 in Wien oder 2013 in Hamburg. Und immer wieder formiert sich im | |
Gedankenstrom ein Flüchtlingschor, der bittet, fleht, polemisiert, aber mit | |
seinen Appellen ans Menschsein wie gegen unsichtbare Mauern anspricht. | |
In der Inszenierung von Regisseur Nicolas Stemann am Thalia Theater Hamburg | |
wird die Mauer zum bestimmenden Bild. Ein Stacheldrahtzaun fährt hoch, Die | |
Bühne verwandelt sich in eine Grenzanlage. Als Hauptakteure lesen die | |
Schauspieler den Text wie auf einer Probe, übertragen ihn mit einigem | |
Anlauf in weitere Spielszenen. Stark werden die Bilder, wenn sie zwischen | |
leblosen Körpern herumsteigen, die wie Tote auf der Bühne liegen: Migranten | |
und Asylbewerber aus Hamburg, Schwarzafrikaner, Pakistaner oder Afghanen, | |
auch Frauen darunter. | |
Stemann hatte bereits in Mannheim eine Gruppe von Flüchtlingen gecastet, | |
als die Inszenierung beim Theater-der-Welt-Festival zum ersten Mal gezeigt | |
wurde. Das Unbehagen, ob weiße europäische Schauspieler überhaupt für | |
afrikanische Flüchtlinge sprechen können, hatte ihn kurzfristig auf die | |
Idee gebracht. Richtig ausgereift wirkt ihr Einsatz in Hamburg jedoch | |
nicht. 28 Flüchtlinge sind beteiligt, darunter 16 der „Lampedusa-Gruppe“, | |
die im vergangenen Jahr mit italienischen Visa nach Deutschland kam und | |
deren Bleiberecht in Hamburg ungeklärt ist. | |
Auf der Bühne bilden sie nun eine Art Flüchtlingschor, werden von | |
Hilfspaketen bombardiert oder schlüpfen in Leichensack-ähnliche | |
Trainingsanzüge. Einige von ihnen sprechen kurze Botschaften in die Kamera, | |
formulieren in gebrochenem Englisch, leise, man versteht sie kaum. Die | |
Schüchternheit wirkt authentisch. Doch ihr Auftritt bleibt weit zurück | |
hinter der Wut, die aus Jelineks Text spricht. | |
## Erweiterter Blick | |
Stemann hat schon oft gezeigt wie man Jelineks hoch komplexe Texte belebt, | |
die unterschiedlichen Identitäts- oder Ideologiefragen in inspirierendes | |
Diskurstheater überführt. „Die Schutzbefohlenen“ wirkt schwächer, repeti… | |
den Text über weite Strecken nur. Die Arbeit könnte sich noch | |
weiterentwickeln: weil die Laienspieler sich in ihre Rollen einfinden. | |
Auch, weil seit dem Wochenende am Hamburger Schauspielhaus schon das | |
Jelinek-Folgestück zu sehen ist. | |
„Strahlende Verfolger“ schließt inhaltlich nahtlos an „Die | |
Schutzbefohlenen“ an, aber erweitert nachträglich den Blick. Wieder geht es | |
um Migranten, diesmal um auswandernde Deutsche und ihren Wunsch, in der | |
Ferne sie selbst zu werden. Aber auch um die Unveränderbarkeit des Menschen | |
und ja, eine Art „deutsches Wesen“, das überall Oberhand behalten will, | |
auch in Sachen Flüchtlingspolitik. | |
Der Text ist Teil des Abends, für den Karin Beier, Regisseurin und | |
Intendantin des Hamburger Schauspielhauses, mit den Schauspielern in | |
Brasilien an Orten wie Blumenau und Joinville recherchiert hat. Bis heute | |
leben dort Nachfahren deutscher Migranten, Wirtschaftsflüchtlinge, die ab | |
Ende des 19. Jahrhunderts auswanderten und mit eingeschränkten | |
Bürgerrechten deutsche Kolonien bildeten. Beier greift ihre Biografien in | |
„Pfeffersäcke im Zuckerland & Strahlende Verfolger“ auf, antwortet wie | |
Stemann auf die Forderung an die Theater, sich mit Migrationsthemen zu | |
beschäftigen. Auf’s Feld des Dokumentartheater begibt sich der Abend jedoch | |
nicht, sondern führt die Realitätsschnipsel zurück in die Künstlichkeit des | |
Theaters. | |
## Gespenstisch herausgeschälte Haltung | |
„Menschenschau“ lautet der Untertitel, und der Abend ist erst einmal | |
genauso inszeniert. 13 beleuchtete Glasvitrinen auf der Bühne, darin ein | |
Stuhl, ein Tisch, auch ein Waschzuber oder eine Schreibmaschine wie aus | |
wilhelminischen Zeiten. Und jeweils ein Brasiliendeutscher. Ottilie Kurz | |
zum Beispiel, gespielt von Ute Hannig, die einst mit ihrem Mann nach | |
Brasilien ging, mit „bloßer Hand“ den Wald rodete und ihren zähen Charakt… | |
stolz mit dem des Großvaters vergleicht. Oder Meik Oliveira, | |
deutschstämmiger Unternehmenserbe, der Fleiß und Disziplin beschwört. Oder | |
der ehemalige Bürgermeister mit Lübecker Vorfahren, Jorge Hildebrandt, der | |
behauptet: „Der Brasilianer nimmt dir weg, was geht.“ | |
Michael Wittenborn verkörpert ihn, schnippt mit norddeutschem Zungenschlag | |
Sätze hin, schlägt streng die Beine in der Bügelfaltenhosen übereinander. | |
Die Schauspieler haben die Lebensläufe, Gesten und Dialekte der | |
Brasiliendeutschen originalgetreu studiert. Manches vielleicht auch | |
hinzugefügt. Doch es glückt die Schwebe zwischen Bericht eines Menschen und | |
Verkörperung seiner Existenz, in der sich gespenstisch auch deren Haltungen | |
herausschälen: Verächtlichkeit gegenüber dem Dschungel, den man erfolgreich | |
fruchtbar machte. Überlegenheit, selbst wenn vom Erfolg der Brasilianer die | |
Rede ist; Spott über brasilianische Mischehen. | |
Die Künstlichkeit der Anordnung wird mit einigem Kalkül präsentiert. | |
Skurrile Einwanderer der zweiten und dritten Generation sieht man hier, die | |
wie aus der Zeit gefallen mit Schliff sprechen und neben Wagner nichts | |
gelten lassen. Im zweiten Teil treibt Beier die Situation weiter. Drei | |
Museumswärterinnen spazieren nun auf Kontrollgängen zwischen den Exponaten | |
und teilen sich Jelineks Text. Geben mal hüftschwingende Sambatänzerinnen | |
oder lassen eine Horde Kinder staunend an die Glasvitrinen. Die Bilder | |
verlieren zwar deutlich an Dichte, aber es ist ein starker Abend, der einen | |
ernsthaften, düsteren Kern zeigt: die Selbsterkennung in der Fremde als | |
Illusion, die im Festhalten mündet an dem, was man hat, kennt und | |
mitbringt. | |
## Waren rein, Menschen raus | |
Man kann nach diesem Abend die am benachbarten Thalia Theater Theater | |
laufende Inszenierung der „Schutzbefohlenen“ noch mal mit anderen Augen | |
sehen. Sprechen darin doch Stimmen, die von den Flüchtlingen ständig | |
Verwandlung und Veränderung fordern. Beide Inszenierungen gehen Jelineks | |
Texte mit starken Zugriffen an. Karin Beier mag beim geübten | |
Jelinek-Regisseur Stemann über die Jahre genau hingeschaut haben, vermischt | |
diskursive Einschübe mit psychologischer Intelligenz. | |
Stemann ist in seinem Element, wenn er an größere Diskurse andockt. In der | |
Schlussszene etwa lässt er eine lebensgroße Handtasche, ein Mobiltelefon | |
und ein Ölfass über die Bühne tanzen. Handelswaren, die aus Fernost stets | |
einreiseberechtigt sind, während die Menschen draußen bleiben. Die | |
Dokumentartheatervariante und die Menschenschau: zwei sehenswerte | |
Gegenwartsreflexionen und unterschiedliche Wege, auf der Bühne Realität | |
aufzugreifen. | |
22 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Simone Kaempf | |
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