# taz.de -- Berliner Theatertreffen: Die Dauer als Thema | |
> Vom Sitzen lahm, aber auch glücklich: Gob Squad, Nicolas Stemann, Lukas | |
> Langhoff und Alvis Hermanis fordern beim Berliner Theatertreffen die | |
> Vorstellungskraft. | |
Bild: Man kokettiert mit der Monstrosität des „Faust“ aus dem Hause Thalia… | |
„Before Your Very Eyes“, vor unseren Augen vergeht das Leben ständig. Aber | |
selten so unter ein Vergrößerungsglas geschoben wie in der Performance | |
„Before Your Very Eyes“, mit der die Gruppe Gob Squad gegen Ende des | |
Theatertreffens nach Berlin eingeladen war. | |
In einem Glaskasten sieht man dem Spiel von sieben Kindern zu, die in | |
siebzig Minuten einen Blick in ihre mögliche Zukunft versuchen. Eine Stimme | |
aus dem Off gibt Anweisungen – „jetzt feiert Zoe ihren vierzigsten | |
Geburtstag und starrt verzweifelt auf das missglückte Sushi“ – und die | |
kindlichen Karikaturen einer Erwachsenenwelt sind zunächst einmal sehr | |
witzig. Bestürzender schon werden die Antworten der Kinder auf die Frage: | |
„Was kannst du mit 45?“ – „Dinge erklären, die ich selber nicht verste… | |
den Kindern Mützen anziehen, weil mir kalt ist; mich vor dem Burn-out | |
fürchten; beschließen, dass sich zu trennen das Beste ist“, zählt Faustin | |
auf, und man möchte gar nicht wissen, was davon schon zur Erfahrungswelt | |
der Kinder gehört. | |
Die Momente aber, die am meisten ergreifen, entstehen, wenn auf einem | |
Bildschirm das frühere Ich der Gealterten und all die verlorenen Optionen, | |
die früheren Wünsche gegen den einen eingeschlagenen Weg erscheinen. Ist | |
das Leben wirklich nur Verengung, Zurückbleiben hinter jedem Selbstentwurf? | |
Oder diktiert diesen pessimistischen Blick die Stimme aus dem Off ob ihrer | |
eigenen Verbitterung, ein Vorprogrammieren der Enttäuschung aus eigenem | |
Frust? Am Ende blitzt dann doch ein Funken Hoffnung auf, dass Ausbrechen | |
aus dem Vorhersehbaren möglich ist. | |
„Before Your Very Eyes“ ist zwar ein kurzes Stück, konnte aber nur | |
entstehen, weil sich die freie Gruppe Gob Squad zwei Jahre Zeit nahm für | |
die Arbeit mit den Kindern. Solch lange Probenzeiten sind ein Luxus. Große | |
Theater leisten sich das selten. Nicolas Stemann musste sie dem | |
Thalia-Theater in Hamburg gegen viele Widerstände abtrotzen für seinen | |
Faust-Marathon, eine großartige Erkundung eines Texts und seiner | |
Brauchbarkeit in der Gegenwart. Stemann wurde dafür mit dem | |
3sat-Innovationspreis ausgezeichnet. | |
## Flinkes Spiel der Vorstellungskraft | |
Sebastian Rudolph, Philipp Hochmair und Patrycia Ziolkowska sind Faust, | |
Mephisto, Gretchen, Marthe, der Famulus Wagner und auch alle Übrigen im | |
ersten Teil des Dramas. Und erzeugen damit ein gedankenflinkes Spiel der | |
Vorstellungskraft, als ob man mit der einen Figur die anderen erfinden | |
würde und jeden aus mehreren Blickwinkeln betrachten könnte. Stemanns | |
Inszenierung lässt die Figuren glühen in einem Feuer, das der Lust an ihrer | |
Schöpfung entspringt und unter all ihren Leidenschaften lodert. | |
Ironischer ist der zweite Teil angelegt, Fausts eigenartige Reise durch | |
verschiedene Horizonte der Geschichte. „Faust II“ ist ein sperriger Text, | |
von vielen Fußnoten des Wissens abhängig, aber erstaunlicherweise eben auch | |
lesbar als vorweggenommene Kritik an der Geldwirtschaft und am ökologischen | |
Raubbau. Stemann hat ihn als eine Art Goethe-Show angelegt, | |
marktschreierisch wird ständig „ ’Faust II, ungestrichen‘ “ angekündi… | |
man kokettiert mit der Monstrosität des weltumspannenden Anspruchs der über | |
7.000 Verse, für die im Übrigen eine Strichliste an der Seite geführt wird. | |
Die einzelnen Akte sind unterschiedlich in ihrer Überzeugungskraft, | |
teilweise nerven zu dick aufgetragene Distanzierungsgesten wie die | |
Schaumstoffpuppen der Gruppe „Das Helmi“ mit niedlichen Albernheiten. Von | |
Josef Ostendorfs lakonischem Mephisto hingegen möchte man keinen Satz | |
verpassen, auch nicht das Zuspiel der Goethe-Gelehrten, die sehr trocken | |
über den Text dozieren. Stemann nutzt hier all die Stärken einer | |
musikalischen Struktur wieder, die er in seiner Jelinek-Exegese entwickelt | |
hat. Und würde man seinen „Faust II“ nicht daran messen, die Begeisterung | |
darüber wäre noch etwas größer. | |
## Acht Stunden Faust | |
Acht Stunden Faust-Marathon, bis zu zwölf Stunden „John Gabriel Borkman“ im | |
Prater der Volksbühne, fünf Stunden „Platonow“– die Dauer war ein Thema… | |
Theatertreffens. Aufmerksamkeit ist eine knappe Ressource, die Konkurrenz | |
ist vielfältig. Während des „Faust“ gewann Dortmund gegen Bayern, die | |
Smartphones liefen in den Pausen heiß. Und als Hertha gegen Düsseldorf | |
verlor, standen Schauspieler aus Bonn mit Ibsens „Volksfeind“ auf der | |
Berliner Bühne und ließen sich die Gelegenheit nicht entgehen, in einer | |
kurzen Improvisation der Hauptstadt eine lange Nase zu drehen – „Wir zahlen | |
Steuer für einen Zweitligisten“. Man gönnte den Schauspielern den Moment | |
des Triumphs der Provinz über die Abzockerstadt Berlin. | |
Sie waren mit dem Stück „Ein Volksfeind“ nach Henrik Ibsen in der Regie von | |
Lukas Langhoff zum Theatertreffen eingeladen. Das Drama über eine Kommune, | |
der die Vertuschung eines Wasserskandals wichtiger ist als die Wahrheit, | |
wirkte eigenartig durchschossen von ost- und westdeutschen Retroelementen, | |
unterhaltsam zwar, dem Verständnis der Konflikte letztendlich aber | |
abträglich. Da hatte man sich nach dem Urteil der auswählenden Jury mehr | |
erwartet. | |
Zerstreuung, Unterhaltung, Kunst, Konzentration, Alltag, Stress: In diesem | |
Begriffsfeld bewegte sich „Waste my time“, ein Podiumsgespräch, an dem der | |
Theaterhistoriker Kai van Eikels teilnahm. Er beschrieb die | |
Theaterkonvention unserer Zeit – ruhig und im Dunkeln sitzen, sich auf eine | |
Sache konzentrieren, vom Aufführungserlebnis eine besonders kostbare Zeit | |
erwarten – als Teil der Disziplinierung im bürgerlichen Zeitalter. Zu | |
Shakespeares Zeiten aber oder auch in der Antike konnte das Theater schon | |
mal den ganzen Tag lang dauern, mehrere Stücke folgten aufeinander, dabei | |
zu essen oder sich sonst was zuzuwenden sei durchaus üblich gewesen. Van | |
Eikels favorisierte daran orientiert ein Modell der schweifenden | |
Aufmerksamkeit, der simultanen Möglichkeiten von Konzentration und | |
Zerstreuung. Auch weil ihm ein so verfasstes Zuschauerkollektiv | |
interessanter erscheint als eine gebannte Gemeinde. | |
Ein Gedanke, der vermutlich auch Alvis Hermanis gefallen hätte, der | |
Tschechows „Platonow“ am Burgtheater Wien inszeniert hat. Schon seine | |
Bühnenbilder, oft panoramaartig lang gezogen, kommen der schweifenden | |
Aufmerksamkeit entgegen, simultan und im alltäglich verzottelten Tempo | |
entwickeln die Szenen, buchstabieren Erfahrung akribisch aus. | |
Sein „Platonow“ ist ähnlich – immer wird ein Tisch gedeckt oder abgeräu… | |
–, aber auch anders, spielt das tolle Ensemble (mit Johanna Wokalek, Dörte | |
Lysseswski, Martin Wuttke, Michael König) doch eben auch „Platonow“, ein | |
Stück um die Angst vor Veränderung. Würden einem beim angespannten Lauschen | |
die Ohren abfallen, man könnte sie jetzt dutzendweise aus dem Haus der | |
Berliner Festspiele kehren, denn oft versuppt der Dialog, redet jemand mit | |
dem Rücken zum Publikum. | |
Das ärgert dann doch, denn alles, was man versteht, sagt mindestens ebenso | |
viel über die Selbsterniedrigung und Liebeshändel des pleitegegangenen | |
Adels aus wie ein über zwei Akte hinweg zelebriertes Besäufnis. Es gibt | |
großartige Szenen: Von den Frauen, die Platonow liebes- und lebenshungrig | |
umschleichen, die Kleiderschleppe schlägt wie der Schwanz einer Katze nach | |
rechts und links aus. Oder wenn Platonow seinen Rausch ausschlafen will, | |
ein betrunkener Student ihm schamvoll von seiner Liebe zu Anna reden will, | |
und eben die kommt hinzu, um ihrerseits Plantonow zu bezirzen – kein Satz | |
geht mehr geradeaus, keine Bewegung führt zum Ziel, bester Slapstick und | |
großes Theater. Gegen Ende versöhnten solche Szenen den Zuschauer dann doch | |
mit der anfangs zäh verflossenen Zeit. | |
21 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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Elfriede Jelinek | |
Münchner Kammerspiele | |
München | |
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