# taz.de -- 100 Jahre Thalia Theater Hamburg: Die Blicke auf sich ziehen | |
> Zur Saisoneröffnung feiert das Thalia Theater Hamburg den 100. Geburtstag | |
> seines Bühnenbaus. Regisseur Jan Bosse spendiert ein Schauspielerfest mit | |
> Tschechows „Platonow“. | |
Bild: Patrycia Ziolkowska und Sebastian Zimmler proben für „Platonow“ am H… | |
Einen besseren Standort kann man nicht finden: In Laufnähe zum Hauptbahnhof | |
Hamburg und zur Binnenalster, in Sichtweite zur Einkaufsmeile | |
Mönckebergstraße wirkt das neoklassizistische Eingangsportal des Thalia | |
Theaters, das die Architekten Werner Lundt und Georg Kallmorgen entwarfen, | |
bis heute einladend. Das Geld- und Zeitbudget für den Bau wurde in den | |
Jahren 1911/12 auch noch vorbildlich eingehalten. | |
Den hundertsten Geburtstag seines Theaterbaus feiert das Thalia in diesen | |
Tagen, und nach der Premiere von „Platonow“, der ersten großen Inszenierung | |
dieser Spielzeit, war es mit seiner nächtlichen Beleuchtung, den | |
Getränkeständen und feiernden Besuchern so sichtbar und belebt, dass man | |
nicht zweifelte, dass es in jeder Hinsicht im Zentrum der Aufmerksamkeit | |
steht. | |
Der Vorgängerbau datiert sogar aus dem Jahr 1843, für die wachsende | |
Nachfrage reichte das Haus nach der Jahrhundertwende bald nicht mehr aus. | |
Heute hätte es so mancher gerne wieder eine Nummer kleiner. Mehr als 1.000 | |
Plätze sind pro Vorstellung zu füllen, die Nebenspielstätte und | |
Extraprojekte nicht mitgerechnet. Dafür hat das Thalia wie viele andere | |
Theater ein komplexes Anreizsystem entwickelt: Klassiker und Romanstoffe | |
laufen auf der großen Bühne, zeitgenössische Stoffe und Projekte für | |
migrantische Jugendliche auf der Studiobühne, als Highlight gibt’s im | |
Februar das Festival Lessingtage. | |
Der Spielplan zielt in die Breite, die Zuschauerzahlen sind gestiegen, | |
verkündete Intendant Joachim Lux, der bei seiner Vertragsverlängerung eine | |
kleine Subventionserhöhung heraushandeln konnte. Am Thalia Theater ist noch | |
alles in Butter, vergleicht man das Haus mit Häusern in kleineren Kommunen, | |
in denen radikal gespart wird. | |
## Segregation statt Vermischung | |
Fragt man sich, wer bei dem runden Jubiläum mitfeiert, kann man also sagen: | |
viele Menschen. Ob aber die Bemühungen um ein Publikum von den Rändern | |
wirklich fruchtet oder wie gut sich das Publikum vermischt, darüber lässt | |
sich wenig sagen. Das Saisoneröffnungsfest repräsentierte eher Segregation: | |
zum Apéro stießen die offiziellen Vertreter und Anzugträger an, später | |
blieb die buntere Partycrowd unter sich. | |
Um Umarmungsgesten an die Stadt bemühen sich die Intendanten überall, ob | |
nun am Thalia Theater, dem Deutschen Theater Berlin oder den Kammerspielen | |
München. Und doch bewegt man sich in der Spielplangestaltung in vielen | |
ungelösten Widersprüchen, setzt etwa wieder vermehrt Klassiker auf den | |
Spielplan, die jedoch heute nicht mehr automatisch Garant sind für ein | |
volles Haus. | |
Jan Bosses Inszenierung von „Platonow“, mit der nun die Spielzeit eröffnet | |
wurde, findet einen nicht unbedingt radikalen, aber doch bezwingenden Weg, | |
den Text ganz selbstverständlich wie aus unserer Zeit daherkommen zu lassen | |
und ihm doch ureigenste Qualitäten zu lassen. Eine Arbeit, die ihr breites | |
Publikum finden wird. Den Selbsterniedrigungen und Schuldbezichtigungen | |
einer kleinen in die Sinnkrise geratenen Gesellschaft verhilft der | |
Regisseur zu äußerster Lebendigkeit. | |
Auf dem verschuldeten Landgut treffen sich die verwitwete Besitzerin Anna | |
Petrowna, ihr Sohn mit seiner schönen Ehefrau Sofia, die bald erkennt, den | |
falschen Mann geheiratet zu haben, ein noch reicher Geschäftsmann, der | |
bereits die früheren Zeiten beschwört, ein verliebter Landarzt und weitere | |
Sehnsüchtige. Sie alle sind in der schwülen Sommerhitze von dem Dorflehrer | |
Platonow angezogen, so sehr dieser sie auch mit Spott überzieht. | |
## In den Selbstekel rutschen | |
Die Inszenierung lebt von den Schauspielern, die ihre Figuren scharf | |
konturieren können. Jens Harzer ist ein entwaffnend ironischer Platonow, | |
der am Ende in einen stoppelbärtigen Selbstekel wegrutscht. Victoria | |
Trauttmannsdorff verleiht der Gutsbesitzerin eine Lebenstüchtigkeit, und | |
Bruno Cathomas wirkt wie ein Kavalier aus anderer Zeit, der nicht weiß, wo | |
er gelandet ist. Man trifft sich in einem Wohnwagen, enger geht es nicht. | |
Düster ist dann der letzte Akt angelegt, wenn Platonow sich den Forderungen | |
der Frauen stellen muss und sich das Geschehen anstrengend in die Länge | |
zieht. Richtig rund ist Bosses Arbeit nicht, doch die Schauspieler können | |
sich feiern lassen, und der Regisseur weiß den Raum des Thalia sehr für | |
sich zu nutzen. Der Wohnwagen wird auf der Bühne gedreht und später ganz | |
weggerollt. Aus der Enge zieht es die Figuren in die Weite der Bühne, je | |
aussichtsloser ihre Situation gerät. | |
Die Türen aufreißen, zeigen, in welchen Räumen man sich befindet, das | |
geschah auf ganz andere Weise auch in „Herzzentrum I-IV“. 25 Schauspieler | |
lasen in der Thalia-Nebenbühne in der Gaußstraße aus Navid Kermanis Roman | |
„Dein Name“. Aber eigentlich war es eine Leseverweigerung, denn die | |
Schauspieler begannen jeweils von sich zu erzählen. Von Bernd Grawert etwa | |
erfuhr man, dass er in dem Kölner Viertel gewohnt hat, das Kermani in einer | |
Szene beschreibt. | |
Man wanderte im labyrinthischen Inneren in den Schuhfundus, dann in die | |
Herrendusche. In dem Sammelsurium aus Dingen und Erzählungen nahm man Teil | |
an dem Bewusstseinsstrom, den das Innere des Theaters ständig produziert | |
und der durch das, was auf der Bühne geschieht, gar nicht immer ersichtlich | |
ist. Ihr ehrwürdiges Alter und ihre zentrale Lage schützen die Theater | |
nicht vor allen Krisen, aber ihre repräsentativen Standorte helfen doch | |
auch, ihre Stärke zu zeigen. | |
3 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Simone Kaempf | |
## TAGS | |
Thalia-Theater | |
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