| # taz.de -- Berliner Volksbühne: Das Theater lebt, lebt und ist tot, tot | |
| > Der Ruf der Berliner Volksbühne hat in den vergangenen Jahren gelitten. | |
| > Nun zieht sie vermehrt Junge an. Hat die Volksbühne eine neue Erzählung | |
| > gefunden? | |
| Bild: Da lebt was weiter: Volksbühnen-Szene aus „Murmel Murmel“ von Herber… | |
| Er ist ein Terrorist. Er ist ein Künstler, Performer und Regisseur, aber in | |
| all dem ein Monster mit zerstörerischer Energie. Er geht mit einer | |
| Maschinenpistole (aus Pappe) auf seine Statisten los, mit einer Säge (aus | |
| Pappe) auf das Bühnenbild, er schmäht seine Techniker als die | |
| „schlechtesten Techniker Deutschlands“, und rühmt sich selbst den | |
| „bestbezahlten Regisseur Deutschlands, der gleich mit allen seinen | |
| Schauspielerinnen schläft.“ | |
| Vegard Vinge, ein Künstler aus Norwegen, spielt diesen egomanischen, ins | |
| eigene Genie verliebten Regisseur, dessen Hang zum Gesamtkunstwerk | |
| totalitäre Züge annimmt, und er spielt ihn in „John Gabriel Borkman“ am | |
| Prater, der Nebenspielstätte der Berliner Volksbühne. | |
| Meint er mit dieser Karikatur etwa Frank Castorf? Der vor vielen Jahren an | |
| der Volksbühne die Überforderung von Schauspielern und Zuschauern als | |
| produktive Methode entdeckte? Vinges Regisseur brüstet sich mit seinem | |
| Engagement in Bayreuth, dem Mekka des Gesamtkunstwerkers Wagner, und | |
| bekanntlich ist Castorf dahin für Wagners „Ring“ 2013 verpflichtet. | |
| Aber es spuken noch andere Gespenster aus Kunst und Theater durch Vinges | |
| Figur, nicht zuletzt aus dem titelgebenden Ibsen-Stück „John Gabriel | |
| Borkman“, mit dem das Duo Ida Müller/Vegard Vinge zum Theatertreffen | |
| eingeladen ist. | |
| ## Nicht der beste Ruf | |
| Der Ruf der Berliner Volksbühne ist nicht mehr der beste. Zu oft sind die | |
| Inszenierungen von Frank Castorf nur noch anstrengend, aber nicht mehr | |
| inspirierend, zu oft enttäuschen Projekte von Gastregisseuren. Von dem, was | |
| einmal abenteuerlich anders und aufregend war, sind jetzt oft nur die | |
| Ambitionen geblieben. | |
| Dennoch hat eine siebenköpfige Kritikerjury, die eine Spielzeit lang das | |
| ganze Land bereist und überall Theater anschaut, gleich drei Inszenierungen | |
| aus diesem Haus – neben Müller/Vinge von René Pollesch „Kill your | |
| Darlings!“ und Herbert Fritschs „Die (s)panische Fliege“– für das | |
| Theatertreffen (bis 21. Mai in Berlin) ausgewählt. | |
| Drei aus einem Haus, das ist äußerst selten. Der volksbühnenmüde | |
| Theatergänger in Berlin reibt sich verwundert die Augen. Hat er da etwas | |
| verpasst? Gibt es eine neue Erzählung der Volksbühne? | |
| ## Tanz mit den Zombies | |
| Die Wahl der Kritikerjury ist das eine Indiz, ein anderes findet sich im | |
| privaten Umfeld. In Polleschs Stück sitze ich zufällig neben einem | |
| Kunstprofessor, der sehen will, worüber seine Studenten so begeistert und | |
| heftig diskutiert haben. Eine Freundin bekommt die Karten zu Herbert | |
| Fritschs „Murmel Murmel“ von ihrer Tochter geschenkt, ein Freund geht hin, | |
| weil sein Sohn ihm davon vorgeschwärmt hat. | |
| All diese über Fünfzigjährigen, die Castorf früher mal toll fanden, aber | |
| nun das Haus schon länger gemieden haben, folgen den Empfehlungen der | |
| Jüngeren auch mit einer gewissen Beglückung. Da kommt was zurück, da lebt | |
| was weiter, da steigt eine nächste Generation mit Begeisterung ein, wo man | |
| selbst schon sehr skeptisch geworden war. | |
| Frank Castorf als Regisseur spielt in dieser neuen Erzählung keine | |
| sichtbare Rolle: Dennoch ist der Ort, die Volksbühne, kein Zufall. Alle | |
| drei Inszenierungen beschauen das Theater als eine historische Erscheinung, | |
| sie tanzen gewissermaßen mit den Zombies aus einem Museum, stellen das | |
| eigene Genre stets selbst in Frage. Und dass sie dabei einerseits am | |
| Klamauk, am Slapstick, an Jahrmarkt, Artistik und Geisterbahn anknüpfen, | |
| andererseits aber virtuos den Diskurs des Zweifelns an jeder Herstellung | |
| von Sinn beherrschen, ist eben die Tradition des Hauses. | |
| Bei Vinge/Müller ist der Aasgeruch am aufdringlichsten, die Darsteller, mit | |
| Masken und Pappkörperteilen gepanzert, wirken wie ferngesteuerte Puppen, | |
| die Stimmen verzerrt wie von einer längst ausgeleierten Mechanik. Zugleich | |
| ist das Anachronistische aber auch überaus detailfreudig und liebevoll | |
| ausgestattet. Handgemalt und puppig erscheint das Bühnenbild, fast glänzt | |
| die Farbe noch feucht, die hier die Illusionen erzeugt und stets im Verlauf | |
| der Performance zerstört wird. | |
| ## Aus dem Theatermuseum | |
| Bei der „(s)panischen Fliege“ stammt das Stück, eine hundert Jahre alte | |
| Komödie der einst sehr erfolgreichen Autoren Arnold und Bach, selbst aus | |
| dem Theatermuseum. Auch Herbert Fritsch überführt den Witz, der hier aus | |
| der Wiederkehr des Verdrängten resultiert, den verleugneten Liebschaften, | |
| in eine zwanghafte Mechanik. In ihr zappeln die Figuren ebenso wie der | |
| Zuschauer, der sich der bösen Schadenfreude nicht enthalten kann, wenn | |
| wieder einer schwankt, abrutscht, stürzt. Schon jedes der Kostüme, zu eng | |
| oder zu steif, zwingt hier dem Körper eine Form auf, jeder zu balancierende | |
| Perückenturm verlangt eine Haltung, die natürlich aus dem Konzept gebracht | |
| werden will. | |
| Ende März, nach der Bekanntgabe der Jury-Auswahl, hatte „Murmel Murmel“ von | |
| Herbert Fritsch an der Volksbühne Premiere, ein noch konsequenteres Stück. | |
| Der Text stammt vom Objektkünstler und Dadaisten Dieter Roth (1930–1998) | |
| und enthält tatsächlich nichts als das Wort „Murmel“, auf 176 Seiten. | |
| Fritsch braucht hier nicht mal mehr eine Geschichte, um Kunst- und | |
| Unterhaltungskonzepte vom Bauhaus bis Fluxus, vom Theater bis zur | |
| Fernsehgeschichte durchzuspielen. Viel trägt das Bühnenbild hier bei: | |
| farbige Wände, die sich wie die Segmente einer Blende weiten oder | |
| zusammenschnurren können, sperren die Schauspieler plötzlich in ein kleines | |
| Geviert, als wären sie im häuslichen Fernseher gefangen, und panisch | |
| schauen sie heraus. | |
| Das Interesse aber, mit dem auf das Vergangene geblickt wird, ist immer von | |
| der Gegenwart geleitet, vom Überdruss an Mainstreamformaten in Kunst und | |
| Unterhaltung und an den Oberflächen des Kommunikationsdesigns. Das wird, | |
| unter anderem, in René Polleschs „Kill your Darlings! Streets of | |
| Berladelphia“ verhandelt, im Versuch eines Einzelnen, des Schauspielers | |
| Fabian Hinrichs, mit einem „Netzwerk“, repräsentiert durch einen | |
| Turnverein, eine Beziehung einzugehen. „Ich habe Nahweltbedarf“ ist einer | |
| der allgemein erheiternden Sätze, oder „das Leben ist keine dauernde | |
| Ekstase, das Leben ist eher ein Grillabend“. | |
| Man kann an diesem Abend Kalauer sammeln über die Veränderung des | |
| Freundschaftsbegriffs in Zeiten sozialer Netzwerke – „wieso kommen denn nur | |
| vier Freunde zum Umzug, wo sind denn die anderen 396?“. Tatsächlich wünscht | |
| sich Hinrichs viel von jener Ausstattung des Individuums zurück, die in | |
| älteren Texten Polleschs als Illusionen und Inszenierungen verworfen | |
| wurden, Leidenschaften und Liebe etwa. | |
| ## Panik vor der Leere | |
| Galten die Subjektforschungen des Autors zuletzt den Ansprüchen der | |
| Selbstoptimierung und Flexibilität, die von den ökonomischen Verhältnissen | |
| jedem an seinem Platz auferlegt wurden, folgt er nun einer neuen Spur, | |
| einem neuen Element der Verkomplizierung der Ich-Konstruktion. Die | |
| Theatergeschichte hilft ihm dabei. Gegen den Arbeiterchor aus den Zeiten | |
| von Brecht wird das „Netzwerk“ mal eben so als Vertreter des Kapitalismus | |
| abgestempelt. Eine kühne Behauptung, die im Verlauf des Stücks aber weit | |
| trägt. | |
| Theater als Antidepressivum, das konnte man oft lesen in den Besprechungen | |
| der Inszenierungen von Fritsch und Pollesch. Tatsächlich verhandeln sie | |
| offensiv das Sich-amüsieren-Wollen, die Unterhaltung um jeden Preis – und | |
| damit auch die Angst vor der Leere und der Langeweile, der mit Panik, ja | |
| beinahe Hysterie begegnet wird. Das Bekenntnis, sich zu langweilen, ist dem | |
| sozialen Ansehen äußerst abträglich, langweilen darf man sich nicht. Aber | |
| Fabian Hinrichs vertreibt das „Netzwerk“ die Langeweile nicht, noch immer | |
| ist ihm der Zustand nahe, in dem er als Kind bis 1.000 gezählt hat. | |
| Das Theater, es lebt, es lebt, es ist tot, es ist tot, das krähen die | |
| Inszenierungen von Fritsch und Pollesch, die Performances von Vinge/Müller | |
| miteinander und gegeneinander heraus, die eigenen Widersprüche breit | |
| ausstellend, manchmal durchaus, aber nicht zwingend, mit der Möglichkeit, | |
| darin auch andere aktuelle Widersprüche zu erkennen. Nie aber bewegen sie | |
| sich im Bereich von Gewissheiten, so sähe gutes oder so sähe wichtiges | |
| Theater aus. Und damit stehen sie in der Tradition des Hauses. | |
| 18 May 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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