# taz.de -- Schauspiel Stuttgart: Exkursion mit Taschenlampe | |
> Im Stuttgarter Theaterabend „Hirnbonbon“ werden Tagebuchtexte des | |
> bildenden Künstlers Dieter Roth zu einer großartigen Spielvorlage. | |
Bild: Die Anmutung der Kälte auf der Bühne in „Hirnbonbon“ stammt von der… | |
Probleme mit sich selbst hat fast jeder mal. Probleme mit sieben | |
unterschiedlichen Versionen dieses Selbst, die wiederum auch alle ein | |
Problem haben, sind eine komplexere Angelegenheit. Diese sieben gestörten | |
Ichs verkörpern zusammen den Künstler Dieter Roth in „Hirnbonbon“, einem | |
Theaterabend in Stuttgart, inszeniert von Christiane Pohle. | |
Dass der Künstler Dieter Roth, dessen Kunstwerke dem Zerfall von Leben | |
gewidmet sind, keine Frohnatur war, lässt sich vermuten. Zu sehen sind | |
viele seiner Werke zum Beispiel in der Stuttgarter Staatsgalerie – das | |
Staatstheater führt nun in einer Zusammenarbeit mit dem Museum seine Texte | |
als Stück auf. Verglichen damit wirken die bekannten Wurstinstallationen | |
und Schimmelbilder wie Objekte aus euphorischen Tagen. | |
Wie es an weniger guten Tagen in der Hirnschale von Dieter ausgesehen haben | |
könnte, wird im Halbdunkel der Studiobühne Stuttgart Nord als ein | |
Psychogramm ausgebreitet. Nur von einem engen Bürokäfig, der an das Atelier | |
des Künstlers erinnert, strahlt etwas warmes Licht in den schwarzen Raum. | |
Strahlt, wie vielleicht ein erleuchtetes Fenster in einer isländischen | |
Winternacht, wo Dieter Roth neben Stuttgart lange lebte. Drinnen stapeln | |
sich zwischen Kaffeemaschine, Schreibtischen und Kühlschrank sieben | |
Dieters, dreimal weiblich, viermal männlich – gespielt großenteils von | |
Schauspielstudenten. | |
Trübe dampft ein Planenhaufen in der Bühnenmitte und es scheint kalt. Wer | |
aus dem Käfigrefugium in diese unwirtliche Szenerie aufbricht, zieht sich | |
dick an und bewaffnet sich mit einer Taschenlampe. | |
## Text im Wurstprinzip | |
Das ist der Raum, in dem sich im Wurstprinzip Textauszüge aus Tagebüchern | |
und Literatur hintereinanderreihen. „Are we now doing an interview?“, | |
lautet eine Frage zu Beginn. Die Antwort erfolgt zwei Stunden lang in | |
unterschiedlichsten Versionen. Immer monologisch vorgetragen von einem der | |
Dieters. | |
Und Dieter Roth ist keine leichte Kost, weil das gemeinsame Problem aller | |
Dieters Kommunikation ist. Weil die resultierende Suche nach den richtigen | |
Worten auch seitenlanges Wiederholen eines Satzes in minimaler Veränderung | |
bedeuten kann. Hier auf der Bühne verwandeln sich diese schwer lesbaren | |
Texte aber auf erstaunliche Weise: Gesprochen entfalten sie eine Dynamik, | |
die das Suchen im System Sprache viel deutlicher macht. Ohne die geringste | |
Spur schauspielstudentischen Unvermögens. | |
## Sich verlaufen in den Worten | |
Jeder Dieter sucht Dieter und findet stattdessen Diederich, Friederich, | |
Frieder, Fritz, Friedbert, aber nie Frieden. Es ist ein Sichverlaufen in | |
den Worten und ihren Bedeutungen. Die Verzweiflung darüber wird spürbar und | |
existenziell. | |
Anne Greta Weber schildert in Gummistiefeln und Regenjacke 10 Minuten lang | |
das Ereignis einer Explosion in einem Büro. Sich ewig wiederholend, bis | |
sich der Sinn selbst zersetzt. Wutschweiß steht ihr auf der Stirn und man | |
fürchtet das Bersten ihres immer röter werdenden Kopfes. Währenddessen | |
steht ein anderer Dieter mit Kaffeetasse und Krawatte stoisch am Rande des | |
dampfenden Hügels. Man fragt sich, ob die Explosion nicht vielleicht gerade | |
in seinem Kopf stattfindet und wie sich das anfühlen muss, gleichzeitig | |
fast vor Zorn über die eigene Mitteilungsunmöglichkeit zu verzweifeln und | |
stumm ins Leere zu starren. | |
„In diesem Weltsystem soll einfach jedes alles bedeuten können“, verkündet | |
der nächste Dieter. Dass dann auch alles nichts bedeutet, wird ihm unter | |
wirrem Verlauten von Silbensalat bewusst. | |
## Strangulation in der Rettungsweste | |
Selbst einer dieterische Stewardess missglücken die stummen Zeichen zur | |
Rettungsanweisung. Die metaphorische Erlösung mit der Rettungsweste endet | |
in Selbststrangulation. Am Ende jedes Monologs steht immer ein Scheitern. | |
Die Dieters flüchten sich schutzsuchend unter die feuchten Planen oder in | |
die Isolation eines kleinen Zeltes. | |
Beeindruckend ist, wie gut die Monologe zu einem zersplitterten Dieter | |
verschmelzen. Wie friedlich alle im Bürokabuff in den Schlaf fallen, | |
während sich Klaviermusik als heilender Balsam über die Szene legt. Der | |
Frieden ist trügerisch, denn ein wacher Dieter seziert verbal den Körper | |
vom Ich, der ihm so fremd ist. Im Plauderton. Das Publikum lacht, wo man | |
auch weinen könnte. Denn Sprache ist das System, das die Welt des Menschen | |
definiert. Darin zu scheitern, bedeutet nichts anderes, als an der Welt zu | |
verzweifeln. | |
Es ist schwierig, über Texte von Dieter Roth zu schreiben, weil man dabei | |
immer hinter dessen Sprache zurückbleiben wird. Um die Paradoxie, | |
Brutalität, Poesie und Verzweiflung zu verstehen, muss man schon selber | |
lesen. Oder sich „Hirnbonbon“ anschauen. Denn diese Inszenierung leistet, | |
was diese Kritik nicht leisten kann. Sie bleibt nicht zurück hinter dem | |
Text. Sondern offenbart dem Zuschauer einen Zugang zum Kosmos Dieter Roth, | |
der ihm nicht angemessener hätte sein könnte. | |
16 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Judith Engel | |
## TAGS | |
Elfriede Jelinek | |
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