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# taz.de -- Oper an der Volksbühne Berlin: „Ich brauche Tulpen und Benzin“
> Eine Oper mit viel Text haben René Pollesch und Dirk von Lowtzow
> geschrieben. Klingt nach sechs Uhr morgens und viel Koks.
Bild: Eine Party im Inneres eines Wales: schön bunt, aber manchmal ermüdend.
Ein Hoch auf den Tischler! Colin Mitchell heißt er, steht im Infoblatt, und
er hat – nach den Anweisungen von Bühnenbildner Bert Neumann – ganze Arbeit
geleistet: Der Wal, der an langen Seilen über der Bühne baumelt, ist eine
Spitzenkonstruktion. Begeh- bzw. erkletterbar ist er, bestimmt sechs oder
sieben Meter lang, von innen beleuchtet und mit einer kleinen Kamera
ausgestattet, so dass das begeisterte Publikum der Volksbühne in Berlin
über eine Leinwand mitbekommt, was innen vorgeht.
Oben am Walrücken, ein Stück hinter dem Blasloch, ist eine Luke, aus der
die drei SchauspielerInnen, Martin Wuttke, Lilith Stangenberg und Franz
Beil, herauslugen können. Meist hocken sie aber drin, bespitzelt von der
Kamera, und reden. Reden ist das, was diese Oper ausmacht, die keine Oper
ist, weil 1. keine dicke Frau singt (allein am Ende zeigt Bariton Martin
Gerke ein einziges Mal, was eine Opernharke ist), und 2. die drei auch
sonst nur ab und an ein paar Lieder trällern. Schöne Lieder allerdings, vom
Tocotronic-Kopf und Pollesch-Fan Dirk von Lowtzow getextet und geschrieben
(Kunst funktioniert interdisziplinär!), von Thomas Meadowcroft mithilfe des
Babelsberger Filmorchesters zu orchestralen, ereignisreichen, mal an Kurt
Weill, mal an Liedertafel erinnernde Kunstwerke verfeinert.
„Ich kann die Welt von oben sehen / Kann alle Sprachen verstehen / Ich kann
die Kämpfe nachvollziehen / Ich brauche Tulpen und Benzin“, singt
Stangenberg gemeinsam mit dem Kinderchor des
Georg-Friedrich-Händel-Gymnasiums beispielsweise an einer Stelle, und
bestätigt: Manche Erkenntnisse werden erst zu Thesen, zu Preziosen, bleiben
erst im Kopf und breiten sich dort mit all ihrer lyrischen und inhaltlichen
Kraft aus, wenn sie mit Musik unterlegt sind.
Andere klingen dagegen auf Dauer nach 6 Uhr morgens in der Bar, und am
Nebentisch quatschen drei schwer bekokste Menschen aufeinander ein: Um
Realitäten und Phantasmen geht es, um Geschichten und Identitäten, um
erloschenes Begehren, Gefühle. Beziehungsflechtwerk eben, alles in ewigen,
mal unterhaltsamen, mal redundanten Sprachtiraden gegeneinander geknüppelt,
jedoch immer und von allen dreien in ihren glitzernden Outfits überragend
dargeboten.
Situativ wird die Szene sehr lose umrahmt von einer Frau, die den Ex trifft
und ihr altes Bild von ihm mit dem aktuellen vergleicht (Stangenberg und
Wuttke mit Sätzen wie: Es kommt mir vor, als spräche ich mit einem völlig
fremden Menschen, ich produziere die Subjektivität an dir, wir machen Liebe
zu einem metaphysischen Ereignis), während ein Dritter dabeisteht (Beil),
versucht mitzukommen, und trotzig Theoreme über die Bühne brüllt (Natürlich
wäre auch eine Welt vorstellbar, in der wir hysterische Einzelwesen sind).
„Von einem, der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte“
handelt also kein bisschen von der Gentrifizierung, die im Titel anklingt.
Obwohl es eine wunderbare, eventuell die beste Stelle im Stück gibt, bei
der Stangenberg das alte, minikurze „You must pay the rent! – I can’t pay
the rent!“-Vaudeville-Stückchen aufführt, mit einem zusammengedrückten
Papierfetzen, der mal als Bart den Vermieter, mal als Schleife die Damsel
in Distress symbolisiert. Aber das ist weder von Pollesch noch von von
Lowtzow und scheint ohnehin nur ein Ausflug zu sein, damit niemand „Thema
verfehlt!“ brüllen kann.
## Irritation Männerschritt
Eventuell ist eh unwichtig, wovon das Stück handelt. Bilder scheinen
wichtiger, der Wal, der während des Songs „Jungfernfahrt“ majestätisch ü…
die Bühne schwimmt, und oben drüber hängt Beil an einer Art
Schwimmlehrerangel und krault gegen ihn an. Oder die lange Sequenz, in der
die Walbauchkamera wie zufällig auf Wuttkes Schritt gerichtet bleibt, er
hatte soeben eine enge Lederschlaghose angezogen, und die Großaufnahme
lenkt herrlich von den theoretischen Texten ab, die aus der Luke
vorgetragen werden. Es ist konsequent, dass in einem Stück über das
Begehren ein Männerschritt als Irritation genutzt wird und nicht, wie
sonst, das Frauendekolletee.
Die großartigen Songs bleiben ebenfalls hängen oder besser: haften: „Ich
hafte an dir / wie Tinte auf Papier / Wie eine Zecke an einem Tier“, singen
Stangenberg und Wuttke im Duett und zitieren dabei Velvet Underground: „I’m
sticking with you / caus’ I’m made out of glue“. Oder: „Moder Moder Mod…
Deine Liebe zieht mich aus dem Moder“ – Stangenberg legt sich wie eine
Femme Fatale auf die Walschwanzflosse.
Die Idee des Walbauchs, in dem schon Jonas die drei Tage erträglich
rumbrachte und in dem zudem die Kamera anfangs falsch herum aufgehängt ist,
so dass die UnterwasserastronautInnen schwerelos zu sein scheinen – das ist
hübsch. Den SchauspielerInnen bei ihrer Kunst zuzuschauen ebenfalls. Alle
drei präsentieren ulkige Charaktere – Stangenbergs heisere Quietschstimme,
deren Naivität von den Inhalten konterkariert wird, Wuttkes
tadellos-zögerliche und mitreißende Präsenz, Beils komische Verzweiflung.
Irgendwo im Stück finden sich, wenn man es drauf anlegt, die
Pollesch-typischen Diskurse, finden sich Zitate von PhilosophInnen und
GendertheoretikerInnen. Die monolithischen Redeblöcke, die sowohl als
intellektuelles Geschwafel als auch als Parodie darauf taugen, sind dennoch
ermüdend. Gut, wenn der Puppenkistenwal einen dann aufzuheitern vermag.
14 Mar 2015
## AUTOREN
Jenni Zylka
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