| # taz.de -- Neues Album von Tocotronic: Liebe wird das Ereignis sein | |
| > Am 1. Mai erscheint „Das rote Album“ der Band Tocotronic. Ihre elfte LP | |
| > ist ein Lexikon der Liebe geworden, ohne kitschig zu sein. | |
| Bild: So romantisch kennt man die Jungs gar nicht. | |
| Die rote Phase ist angebrochen im Reiche Tocotronic. Sie beginnt mit einer | |
| klingenden Bassgitarre und etwas Hall, einem treibenden Schlagzeugbeat, | |
| Snaredrum und Hi-Hat-Becken, sehr reduziert. Dann zackiger, fast | |
| staccatoartiger Gesang, in sanfte Chöre mündend: „Ba-ba-ba …“ Mit einem | |
| „Prolog“ läuten Tocotronic ihr neues Album ein, dessen Cover – 100 Jahre | |
| nach Malewitsch – ein schlichtes Viereck in roter Farbe zeigt. | |
| Dass die tocotronische Farbenlehre, 13 Jahre nach dem „Weißen Album“, nun | |
| bei Rot angekommen ist, ist nicht unbedeutend. Bereits im [1][Video] zum | |
| „Prolog“ variiert die Band die Farbmotivik. Man folgt darin einer Frau, die | |
| herumirrt, sich zurückzieht, später einsam in der fremden Stadt | |
| herumstreunt. „Du zitterst noch und hörst in dich hinein/ Was könnte das | |
| Ereignis sein?“, singt Dirk von Lowtzow dazu. Ein blutroter Himmel breitet | |
| sich vor der Protagonistin auf. Dazu leuchtet der gesungene Vers in Rot | |
| auf: „Liebe wird das Ereignis sein“. | |
| Die Liebe ist das zentrale Thema auf dem unbetitelten elften Album der | |
| prägenden deutschen Indie- und Diskursrockband der vergangenen Jahre „Es | |
| ist fast eine Art Konzeptalbum zum Thema Liebe“, sagt Sänger und Gitarrist | |
| von Lowtzow beim Gespräch, das er und Bassist Jan Müller der taz geben. Zum | |
| Albumdesign des Künstlers Jan Timme, sagt Bassist Müller: „Nachdem sich | |
| Liebe als Thema herauskristallisierte, bot sich das rote Artwork an. Und | |
| Rot ist natürlich auch die Farbe des politischen Kampfes. Nicht zuletzt | |
| geht es um Reduktion: streichen, verkürzen, auf den Punkt bringen. Das | |
| sollte sich auch im Design widerspiegeln.“ | |
| Die rote Phase als eine behutsame Zäsur der in Berlin beheimateten Band. | |
| Die einst typischen Tocotronic-Rockgitarren klingen noch stärker | |
| zurückgenommen als schon zuletzt. Nach der LoFi-Frühphase und dem nicht | |
| mehr ganz so breiigen, geerdeteren Sound des Erwachsenseins der Nullerjahre | |
| heißt es jetzt: Let there be Pop. | |
| ## Sie klingen hoffnungsvoller, versöhnlicher | |
| So klingen Synthesizer, prägnante Bassläufe, angedeutete Gitarrensoli, eine | |
| hohe, zarte Stimme an. Neben diesen Songs mit deutlichen | |
| Achtziger-Referenzen stehen auf dem „Roten Album“ auch einige | |
| Liedermacher-/Chansonstücke. Zusammengearbeitet haben Tocotronic, die von | |
| Arne Zank am Schlagzeug und Rick McPhail an der zweiten Gitarre | |
| komplettiert werden, erneut mit dem Produzenten Moses Schneider. Der hatte | |
| bereits die Berlin-Trilogie – die Alben „Pure Vernunft darf niemals | |
| siegen“, „Kapitulation“ und „Schall und Wahn“ – sowie das Vorgänge… | |
| „Wie wir leben wollen“ von 2013 aufgenommen und gemischt. | |
| Tocotronic haben, und das überrascht vielleicht am meisten, ein sehr | |
| positives Album aufgenommen, was auch dem Thema Liebe geschuldet ist. | |
| Hießen auf vergangenen Alben die Eröffnungsstücke „Mein Ruin“ oder „Eu… | |
| Liebe tötet mich“, so klingt es nun hoffnungsfroher, versöhnlicher. „Das | |
| Album ist bestimmt sanfter als andere von uns“, sagt Müller, „wir standen | |
| bisher als Band vielleicht eher für Abgrenzung und Verneinung.“ Von Lowtzow | |
| ergänzt, man habe das Thema ernst nehmen wollen, als schreibe man ein | |
| „Lexicon of Love“. Was es zu vermeiden galt, sei: Kitsch. | |
| Ab und an ist der kitschige Abgrund nah – umso erstaunlicher, wie elegant | |
| Tocotronic ihn umkreisen. Das Lied „Haft“ – mit der Hookline „Ich hafte… | |
| Dir“ – wäre ein solches Beispiel. | |
| Zunächst sehr trivial klingend, erwächst bei mehrmaligem Hören ein | |
| deutungsoffener, kluger Song daraus, der auch an der Berliner Volksbühne in | |
| einer Pollesch/Von-Lowtzow-Inszenierung gerade interpretiert wird: „Weder | |
| Gewalt/ Noch Leidenschaft/ Was uns eint, ist Haft/ Eine geringere Kraft/ | |
| Was uns eint, ist Haft.“ | |
| ## „Was zur Hölle ist das denn jetzt?“ | |
| Auch „Zucker“, ein Lied, das Männlichkeitskonstruktionen infrage stellt, | |
| erschließt sich erst nach mehrmaligem Hören. In seiner Unbeschwertheit | |
| erinnert es an They Might Be Giants oder die Smiths. „Ich mag es | |
| grundsätzlich, wenn jemand während des Hörens aufschreckt und sich fragt: | |
| ’Was zur Hölle ist das denn jetzt?‘ Das sind Zäsuren im Hören und in der | |
| Wahrnehmung“, sagt von Lowtzow dazu. | |
| Die textliche Könnerschaft zeigt sich auch auf der zweiten, der politischen | |
| Ebene. Der Song „Die Erwachsenen“, von Eighties-Synthies eingeleitet, | |
| beinhaltet die Sicht eines rebellischen Teenagers auf die Erwachsenenwelt. | |
| Hier verstört die behutsam vorgetragene Refrainzeile „Wir sind Babys/ Sie | |
| erziehen uns nicht“ zunächst. „Der Song ist dreimal um die Ecke gedacht und | |
| sollte trotzdem In-your-face sein“, sagt von Lowtzow. In der Tat wird er da | |
| spannend, wo er sich gegen die eigenen verpassten Möglichkeiten, der | |
| unversuchten Revolten wendet und wo sich jugendliche Unvernunft | |
| unwillkürlich zur Vernunft verkehrt: „Man kann den Erwachsenen nicht | |
| trauen/ Ihr Haar ist schütter/ Ihre Hosen sind es auch/ Wir werden viele | |
| Mauern bauen/ Denn sie sind grauenvoll.“ | |
| So gibt es durchweg auch politische Lesarten der Songs, das Folgestück, | |
| „Rebel Boy“, beginnt mit den Zeilen: „Ich werde nicht gebraucht/ Die | |
| Zukunft gibt es nicht/ Doch hat man mir bereits/ Von dir berichtet“. Das No | |
| Future des Punk findet sich hier, leicht modifiziert, wieder: „Ich könnte | |
| mir vorstellen, dass in dem Song eine Weltsicht geschildert wird, die | |
| gerade viele junge Menschen haben, zum Beispiel in Berlin“, sagt von | |
| Lowtzow. „Die Stadt ist ein Sammelbecken für junge Leute aus Ländern mit | |
| hoher Arbeitslosigkeit, Spanien oder Griechenland. Genauso könnte es aber | |
| auch ein desillusionierter, alter Mensch sein, der da spricht.“ | |
| ## Das Gesagte ist nicht das Gemeinte | |
| Deutlich politisch konnotiert ist „Solidarität“, ein Song fast brechtscher | |
| Prägung, der Empathie für Outsider und Ausgegrenzte postuliert. „Anlass für | |
| das Lied waren die Berichte über die pogromartige Stimmung in Hellersdorf | |
| im Sommer 2013“, sagt von Lowtzow, „im Song transferiere ich das auf eine | |
| persönliche Ebene.“ | |
| Für Müller fällt das Stück deshalb nicht aus dem Konzept heraus: „Für mi… | |
| erweitert das den Begriff der Liebe“, sagt er, „ich nehme das gar nicht als | |
| explizit politischen Song wahr, man kann ihn ja ganz unterschiedlich | |
| deuten.“ Und von Lowtzow ergänzt: „Solidariät ist von den Stücken | |
| beeinflusst, die Nico in den späten Sechzigern mit Jackson Browne | |
| aufgenommen hat.“ | |
| Hamburger-Schule-Urgestein Kristof Schreuf formuliert die These, Tocotronic | |
| bewege sich auf dem roten Album weg vom Diskursrock. Wenn man die Betonung | |
| dabei auf „Rock“ legt, mag das stimmen. Und es gibt auf dem roten Album | |
| sicher auch eine Entwicklung hin zur Sagbarkeit, zur Klarheit. | |
| Andererseits: Zu sicher sein, dass das Gesagte auch das Gemeinte ist, | |
| sollte man sich bei von Lowtzows Texten nie. | |
| ## Ein verstecktes Date mit Dirk | |
| Musikalisch hat das rote Album einige echte Hits, wirkliche Knaller. Aber | |
| auch zwei, drei Songs, die man nicht so registrieren würde. Wären da nicht | |
| die Texte. Die sind so grandios wie vielleicht noch nie bei dieser Band. Es | |
| sind Hymnen auf die Zuverlässigkeit, an die Komplizenschaft in der Liebe, | |
| an Freundschaften. Es geht darum, sich sachte neu zu erfinden, ohne den Pop | |
| neu zu erfinden. | |
| Entlassen wird man aus dem roten Album mit einem „Hidden Track“. Das Ich, | |
| das darin spricht, hat ein „Date mit Dirk/ am ersten Frühlingstag“. Völlig | |
| plausibel findet man sich kurz darauf tief in der deutschen Romantik | |
| wieder, auf dem „feuchten, modrigen, vom Tau liebkosten Wiesengrund“ (ein | |
| kleiner Gruß an Adorno, dessen „Minima Moralia“ die Band während des | |
| Produktionsprozesses diskutiert habe). | |
| Die Beine sind nun von Mücken zerstochen. Dirk wächst derweil Plasma aus | |
| der Hand. Und das Ereignis ist das neue Tocotronic-Album. | |
| 28 Apr 2015 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.youtube.com/watch?v=RwIdp3-RyK4 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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