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# taz.de -- Róisín Murphy über Ersatzfamilien: „Italiener mögen mich“
> Ein Gespräch mit der irischen Sängerin Róisín Murphy über Disziplin im
> Internet, die schöne Eifersucht und schwarze Hosen aus Acryl.
Bild: Róisín Murphy wurde in den 90ern als Sängerin des Duos Moloko bekannt.
taz: Frau Murphy, im Finale Ihres neuen Albums „Hairless Toys“ singen Sie
davon, dass es zu Ihrem Glück nur eine Leselampe und ein gutes Buch
bräuchte. Was haben Sie zuletzt gelesen?
Róisín Murphy: Als ich „Unputdownable“ komponierte, war es „Portnoy’s
Complaint“ von Philip Roth. Zuletzt habe ich ein Selbsthilfe-Buch gelesen.
Wie wird man Popstar?
(lacht) „The Willpower Instinct“ von Kelly McGonigal. Dank ihr habe ich
meine Nikotinsucht überwunden. Das Buch handelt von Selbstdisziplin. In
meiner Familie wurde darauf wenig Wert gelegt. Die Grundannahme von
McGonigal lautet: ohne Selbstdisziplin kein Vergnügen.
Klingt fast wie der Soulslogan „No Ecstasy without pain“.
Ja, wenn ich neue Highs erreichen will, muss ich darauf hinarbeiten, sonst
könnte ich weder Musik aufnehmen noch auf Tour gehen. McGonigal hat ihr
Buch an Eltern von Kindern in den USA gerichtet. Sie kritisiert die
Annahme, Kinder mit gut ausgeprägtem Selbstbewusstsein bekämen bessere
Zensuren. Ihre Arbeitshypothese ist genau umgekehrt: Kinder mit guten Noten
haben mehr Selbstbewusstsein. Kinder mit guten Noten werden sich wohl kaum
anstrengen, das führt ins Negative.
In Deutschland hat Disziplin einen Beigeschmack, was mit der Pervertierung
des Begriffs in der Geschichte zu tun hat.
Disziplin steht nirgendwo hoch im Kurs. Auch die Psychoanalyse hat dieses
Feld vernachlässigt. Ich habe die Musikindustrie durchlebt, als ihr
Goldenes Zeitalter in den 90ern zur Neige ging. Damals gab es – abgesehen
von Singen und Komponieren – für alles Arbeitskräfte, die einem alles
abgenommen haben. Nun liegt die Verantwortung bei mir. Mehr
Eigenverantwortung bedeutet mehr Disziplin, mehr Instagram-Fotos.
Im Internet lässt Feedback dafür nicht lange auf sich warten. Es gibt keine
Dritten, die beurteilen, ob ich gut gearbeitet habe. Wie jede Droge kann
das Internet in den falschen Händen Schaden anrichten. Viel narzisstischer
ist es doch, wenn man von der Musikindustrie auf Wolke sieben geparkt wird.
Das ist für Talente keine Option mehr. Die müssen nicht narzisstisch sein,
sondern realistisch.
Auf ihrer neuen Single, „Jealousy“, einem House-Mover, singen Sie von
Eifersucht als „schönem Gefühl“.
Ich beschreibe, wie Eifersucht aus einem schönen Gefühl entsteht, ein
chemischer Zustand.
Und dieser Zustand kreiert Hässlichkeit.
Genau darum geht es.
Die Musik stammt von Richard Barratt aus Sheffield. (Ich zeige ihr seine
House-Platten.) Anfang der Nullerjahre lebte meine Freundin dort. Die
Hässlichkeit der Stadt empfand ich überwältigend, genauso wie dies
Schönheit im Pop hervorbringt.
Und dann haben Sie ihrer Freundin die Platten von Barratt entwendet und
geben jetzt vor mir damit an?
Nein, die hatte ich schon vorher. Jedenfalls dringt der Brutalismus
Sheffields aus Ihrer Musik. Wie Sie den Gesang phrasieren, das klingt hart,
aber herzlich, wie Nordengland.
Für mich ist Sheffield eine Art Ersatzelternhaus, etwas, das mich
künstlerisch auf den Weg gebracht hat. Es ist ein Ort, an dem man nicht mal
Mayonnaise fürs Sandwich bekommt, dafür muss man nach London. Sheffield ist
Teil meiner DNA. Dort traf ich zum ersten Mal auf Musiker wie Richard
Barratt und andere, die mich akzeptiert haben. Sie mochten wahrscheinlich
meine schwarze Hose aus Acryl.
Am Anfang Ihres neuen Albums steht mit „Gone Fishing“ eine Ode an die
schwarze Vogueing-Transgender-Kultur, auch eine Ersatzfamilie, die als
Wurzel des House-Sounds gilt. Was unterscheidet Ersatzfamilien von
Familien?
Ich sehe da eher Gemeinsamkeiten: Meine Kindheit war schön, während meiner
Teenagerzeit ist meine Familie auseinandergebrochen, beide Elternteile
hatten Lebenskrisen und konnten mir nicht helfen. Ich hoffe, meinen Kindern
bleibt dies erspart. Andererseits wurde ich dadurch mit Freunden
zusammengeschweißt und dabei half uns immer Musik. Es waren Leute mit
Rückgrat. Durch ihren Schutz blieb mir viel Ärger erspart.
2014 haben Sie eine EP mit Italopop-Coverversionen veröffentlicht. Was
reizt Sie an italienischer Lebensart?
Italiener mögen mich, das beruht auf Gegenseitigkeit. (lacht) Außerdem
sehne ich mich schon mein halbes Leben nach der italienischen Sängerin
Mina. Zur Vorbereitung auf „Hairless Toys“ habe ich mir eine
TV-Aufzeichnung ihres Hits „Non Credere“ angesehen. Mina wirkt als Ikone
modern und gleichzeitig feminin. Alles an ihrem Image ist von ihr selbst
bestimmt, und sie trägt ihren Song mit einem schlauen Zwinkern im Auge vor.
Ihr Selbstbewusstsein in der Machokultur der Sechziger ist ein Vorbild für
mich. Wie würdevoll sie auf der Bühne steht! Wie sie künstlerische Freiheit
für sich beansprucht!
Was bedeutet Ihnen selbst künstlerische Freiheit?
Ich musste sie in meiner Karriere nie infrage stellen und habe
diesbezüglich auch keinerlei Kompromisse gemacht. Zu Zeiten von Moloko galt
ich als Muse von Mark Brydon. Ein schiefes Bild, das entstand, weil er mich
beschützte, inklusive unsere künstlerische Freiheit. Ich konnte immer
singen, was ich singen wollte.
Und was sind die titelgebenden „haarlosen Spielsachen“?
Das kann alles Mögliche bedeuten: Mein Kleid ist total „haarlose
Spielsachen“. Auch Berlin ist „haarlose Spielsachen“: Die Atmosphäre der
Stadt wirkt auf mich spröde, minimalistisch, es ist sehr hässlich.
9 May 2015
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Dancefloor
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