| # taz.de -- Neues Album „Roísín Machine“: Elegante Erfahrenheit | |
| > Erhaben, weise, aber auch euphorisch. Mit„Roísín Machine“ veröffentlic… | |
| > die irischen Popikone Roísín Murphy ein federleichtes neues | |
| > Dancefloor-Album. | |
| Bild: „Man hält die Euphorie so lange wie möglich zurück, und dann lässt … | |
| Vielleicht tanzt man in seinen 40ern auch öfter allein. Roísín Murphy tanzt | |
| sich in einem vor ein paar Tagen veröffentlichten Video zu dem Song | |
| „Something More“ coronabedingt einsam aus der Krise: [1][Die 47-jährige | |
| Irin] läuft in dem Clip, der den Zusatz „Ibiza Lockdown“ trägt, in einem | |
| transparenten, bodenlangen, mit opulenten Rüschen besetzten grünen Gewand | |
| durch ein Landhaus auf der Balearen-Insel, der Lichteinfall lässt an einen | |
| frühen Morgen denken. | |
| Ihres Capes, Huts und Tuches entledigt sie sich nonchalant nacheinander, | |
| während sie sich an leeren Weinflaschen vorbei aus dem schattigen Haus | |
| Richtung Garten begibt, immer gefolgt von der Kamera. „A crown upon my head | |
| / Young lovers in my bed / But I want something more“ singt sie bei ihren | |
| Pirouetten durch das Gras. Am Ende lässt sie sich (zum Glück ohne Mikrofon) | |
| in einen malerischen, mit Marmor eingefassten Pool fallen, das textile | |
| grüne Etwas wabert um ihren Körper wie Schlingpflanzen um eine erwachsene | |
| Seenymphe. | |
| „Roísín Machine“, das neue, dritte Soloalbum der ehemaligen Sängerin des | |
| Duos Moloko, ist ein äußerst erwachsenes Album. Tanzen und die Beats, die | |
| einen dazu bringen, bilden nach wie vor die Basis für jeden der zehn | |
| Tracks. Aber, vielleicht weil man es weiß, vielleicht weil man es ihrer | |
| zuweilen ungewöhnlich tiefen Stimme anhört: Die Leichtigkeit, die frühere | |
| Alben und fast sämtliche Moloko-Werke umgab, ist einer elegant inszenierten | |
| Erfahrenheit gewichen. Einem Bewusstsein, das der Musik eine andere Tiefe | |
| gibt. | |
| „Meine Musik kommt aus der Erfahrung“, bestätigt Murphy ein paar Wochen vor | |
| dem Video bei einem Telefoninterview. „Es war anders als sonst, das | |
| Erkunden meiner verschiedenen Stimmlagen war eine geradezu freudianische | |
| Lehre. Und ich saß keinesfalls wie früher herum und überlegte, wie der | |
| nächste Song sich anhören könnte, um mir daraufhin die passenden Musiker zu | |
| suchen“. | |
| ## DJ Parrot als Produzent | |
| Stattdessen arbeitete die Künstlerin – wieder, aber dieses Mal fast | |
| ausschließlich – mit ihrem langjährigen guten Freund DJ Parrot zusammen, | |
| den sie bereits als Teenager kennenlernte, kurz nachdem sie 1990, mit 17, | |
| in Sheffield gestrandet war. „Er ist der konzentrierteste Produzent, den | |
| ich kenne“, sagt sie, „Parrot hält im Studio meistens die Augen geschlossen | |
| und bewegt sich tatsächlich durch die Songs, durch deren Architektur | |
| hindurch.“ | |
| [2][Richard Barratt] alias DJ Parrot ist „Schutzpatron“ der Musikszene von | |
| Sheffield: Schon in den 1980ern produzierte er House und Disco, hatte | |
| einige Hits, und zwar mit jener Sorte Industrial Music, die in die | |
| abgehalfterte Industriestadt passte – vor der Jahrtausendwende hatte der | |
| Ort in South Yorkshire schwer unter dem Niedergang der britischen | |
| Stahlindustrie zu leiden. | |
| Mit Richard H. Kirk von Cabaret Voltaire werkelte Barratt in den späten | |
| 1980ern an einem Projekt namens Sweet Exorcist, später war er auch | |
| federführend bei dem elektronischen Big-Beat-Projekt The All Seeing I, das | |
| seine kühlen Sounds stets mit einer wärmenden Portion Schalk versah. Heute | |
| nennt sich Barratt [3][Crooked Man] und mit diesem Alias hat er auch schon | |
| Tracks zusammen mit Roísín Murphy veröffentlicht. | |
| ## Geheimnisvoll und melancholisch | |
| „Roísín Machine“ gestaltet Parrot mit stark aufgebauten Dramaturgien, | |
| saftigen Discosounds und kühnen Backgrounds wie eine lange, mal | |
| geheimnisvolle, mal melancholische Tanzhymne. Die Hinweise auf Zeiten, in | |
| denen der Groove durch alle Knochen und alle Frequenzen ging, die Anleihen | |
| aus den 70s und 90s sind dabei völlig nostalgiefrei. Vielleicht kann Roísín | |
| Murphy ihren Eskapismus inzwischen seltener im Club ausleben – aber in | |
| einem voluminösen textilen Design am Rand eines Pools auf Ibizza zu tanzen, | |
| trifft es schließlich auch ganz gut. | |
| Hauptsache, die Ekstase hat sich noch nicht verzogen: „Man hält die | |
| Euphorie so lange wie möglich zurück, und dann lässt man sie kommen. So | |
| haben wir es auf dem Album gemacht“, erklärt Murphy. „Aber die spezielle | |
| Euphorie von ‚Roísín Machine‘ entstammt dunklen Orten. Bei dem Song | |
| ‚Simulation‘ gibt es zum Beispiel lange ein rosa Rauschen der Hihats, das | |
| macht die folgende euphorische Erlösung sogar noch stärker, weil sie sich | |
| so unerwartet und unheimlich anschleicht.“ | |
| Besagtes Stück „Simulation“ entstand, wie zwei weitere, bereits vor ein | |
| paar Jahren. Es steht folgerichtig am Anfang des Albums, als älterer | |
| Auftakt ins Heute. Wie die anderen Songs bringt es seine schnellen Beats | |
| langsam ins Spiel, und erst wenn man es kaum noch aushalten kann, eskaliert | |
| die Musik strahlend auf dem Dancefloor. | |
| Ein absolutes Meisterstück in Sachen Steigerung ist jedoch das epische | |
| „Kingdom of Ends“ – der Titel erinnert an den von Murphy geschätzten | |
| [4][britischen Musikjournalisten und Autor Mark Fisher,] der 2017 starb: | |
| „Fisher war ein brillanter Polemiker“, sagt Murphy, „mit dem Begriff | |
| ‚Kingdom of Ends‘ bezeichnete er den Moment, an dem man das Finale seines | |
| Begehrens erreicht.“ | |
| In einem Nachlass habe sie Texte [5][von ihm über ihre Band Moloko | |
| entdeckt, erzählt Murphy.] In denen habe er die Band in eine Reihe mit | |
| Glamrock gesetzt, ganz ans Ende des musikalischen und Outfit-Phänomens. „Er | |
| hat meine Sexualität auf der Bühne hellsichtig beschrieben“, so Murphy, | |
| „als etwas, was ich nur für mich allein mache, nicht für das Publikum, | |
| nicht für den Rest der Band.“ | |
| ## Feen und Elfen singen Mantra | |
| Das beeindruckende „Kingdom of Ends“ fängt mit zwei sich wiederholenden, | |
| motorischen Basstönen an, die sukzessive von unterschiedlichen Akkorden | |
| umspült werden. Irgendwo im Hintergrund beginnen verschwommen ein paar Feen | |
| und Elfen (Murphys mehrfach gedoppelte Stimme) ihr Mantra zu singen. | |
| „In the Kingdom of Ends …“, bis vorn die mündige Discohexe Murphy in die | |
| Lichtung tritt und die Atmosphäre mit ein einigen Parolen anfeuert: „This | |
| is all / Nothing left / This is it /It was easier than I expected“. „… | |
| there’s only one desire left“, setzen die Feen und Elfen fort, und die | |
| Discohexe schleudert dazu weiter ihre Beschwörungen gen Himmel: „This is | |
| sane /This is mad / Ain’t nothing there / To make me glad“. | |
| Bis zur Hälfte des über sechsminütigen Songs muss man das Vorspiel zum | |
| erlösenden Beat aushalten, zwei Minuten später fällt schon wieder alles in | |
| sich zusammen, die Geigen zittern, die Nebelschwaden werden dichter, die | |
| Feen und Elfen verschwinden: Ein wahrhaft mutiges Stück. „Das Genre ist ja | |
| eigentlich Mainstream“, sagt Murphy, „aber weil die Songs von ‚Roísín | |
| Machine‘ gleichzeitig so viele unterschiedliche, verwirrende, auch | |
| beängstigende Gefühle ansprechen, ist es das eben nicht. Die Botschaft ist | |
| nicht simpel. Mir geht es immer um Komplexität.“ | |
| ## „I’ll make my own happy ending“ | |
| Ein paar wenige Songs auf dem Album riechen zwar zunächst nach | |
| Abgeklärtheit, erzählen bei genauerem Hinhören jedoch davon, wie man sich | |
| manchen Dingen nicht entziehen kann: „I feel my story’s still untold /But | |
| I’ll make my own happy ending“, spricht Murphy im Oldschool-Disco-Stampfer | |
| „Murphy’s Law“ über Handclaps. | |
| Im Song geht es um das Ende einer Beziehung – zunächst scheint der | |
| erwachsene Umgang damit zu überwiegen. Doch dann gibt die Erzählerin zu: | |
| „It’s Murphy’s law I’m gonna meet you tonight / Just one match could | |
| relight the flame / And just when everything is goin’ alright / Murphy’s | |
| law’s gonna strike again“. Als Erwachsene*r mag man weise sein. Doch Alter | |
| schützt nicht vor Gefühlen. Zum Glück. | |
| 2 Oct 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jenni Zylka | |
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