# taz.de -- Neues Album von Maria Minerva: Erinnerung an glücklichere Zeiten | |
> Die estnische Künstlerin Maria Minerva begegnet diesem verflixten Jahr | |
> mit ihrem Synthiepop-Album „Soft Power“. Zwischen Melancholie und | |
> Euphorie. | |
Bild: Idealer Soundtrack für Gespräche im Außenbereich von Clubs: Minervas n… | |
„Hey pretty baby / It’s been a while“ – [1][Maria Minerva] hält nicht … | |
hinterm Berg mit ihrer sechsjährigen Abwesenheit. Vielmehr begrüßt sie | |
HörerInnen ihres neuen Albums „Soft Power“ ganz offensiv; ihr Gesang wird | |
umschmiegt von einer leicht dröhnenden Orgel, den beiden geschlossenen, | |
dafür umso swingenderen HiHat-Becken und feisten Synthesizer-Akzenten. | |
Als Maria Juur, wie die Estin Maria Minerva bürgerlich heißt, zuletzt auf | |
dem Tableau erschien, war es 2014 und die Welt noch nicht ganz so aus den | |
Fugen wie momentan. Allerdings ist die Geschichte der elektronischen | |
Tanzmusik schon immer von der Divergenz zwischen Freud und Leid geprägt | |
worden, vom Zusammenspiel aus Dur und Moll, von Euphorie und Depression. | |
Maria Minerva weiß genau um diesen Umstand: 2016 verlor sie ihre | |
US-Künstler-Kollegin Cherushii, die bei einem verheerenden Brand ums Leben | |
kam. Beide verband eine innige Freundschaft, wie sich Minerva im | |
Onlinemagazin Resident Advisor erinnert: Nach vier Alben, die sie zwischen | |
2011 und 2013 auf dem angesagten Los-Angeles-Label Not Not Fun | |
veröffentlicht hatte, machte sich Minerva daran, eine US-Tour zu | |
absolvieren. | |
Auf Grund der großen Distanzen zwischen den Auftrittsorten sind solche | |
Reisen aufwendig. Ihre Labelkollegin Cherushii bot sich dennoch an, ihr als | |
Support-Act, Fremdenführerin und hilfsbereite Kollegin zur Seite zu stehen. | |
## Trauer verarbeiten nach schmerzhaftem Verlust | |
Der Roadtrip endete mit Minervas Umzug nach Los Angeles, zudem kam es zur | |
künstlerischen Kooperation – die endete am 2. Dezember 2016 in Oakland jäh. | |
Bei einer Party, die ihr Label Not Not Fun organisierte, in einem | |
Lagerhaus, das als Künstlerkommune und Technoclub genutzt wurde, [2][brach | |
ein Feuer aus. Das „Ghost Ship“] genannte Gebäude hatte keinerlei | |
Brandschutzvorkehrungen; in dieser Nacht starben 36 Menschen, unter ihnen | |
Chelsea Faith Dolan alias Cherushii. | |
Wer die Frage stellt, warum man lange nichts von der Musikerin Maria | |
Minerva gehört hat, findet hier die Antwort: In einem fast dreijährigen | |
Prozess der Trauer stellte Maria Minerva 2019 jenes damals geplante | |
Kooperationsalbum mit Cherushii fertig. Erst nach Beendigung dieser | |
trostspendenden Arbeit – und einem Umzug von L. A. nach New York – wähnte | |
sich die Estin in der Lage, wieder solistisch agieren zu können. Nahezu | |
unangekündigt und ab vom lauten Rauschen des Promotion-Business | |
veröffentlicht sie nun schließlich „Soft Power“. | |
Der Oktober 2020 ist im verflixten Pandemiejahr womöglich nicht der beste | |
Moment, um neues Dancefloor-Futter zu veröffentlichen. Bis auf wenige | |
Ausnahmen sind alle [3][Clubs geschlossen oder als Museen zweckentfremdet] | |
– es gibt kaum Aussicht auf baldige Entspannung. Anstelle von | |
energiegeladenem House-Sound scheint „Soft Power“ für den Wohnzimmergenuss | |
angemessener. Da möchte die Musik andererseits auch nicht so richtig | |
reinpassen. | |
Zwar beherrscht Minerva wehmütige elektronische Tapesterien wie kaum jemand | |
anders, gerade ihr ungeübter Gesangsvortrag unterstreicht diese | |
Calabasas-Melancholie umso mehr. Insgesamt verbreiten die acht neuen | |
Tracks, die mal synthie-poppig, mal wavy, dann wieder House-affin klingen, | |
indes Euphorie. Es ist ja nicht verboten, mit Musik an bessere Zeiten zu | |
appellieren. | |
## Zeitloser Popdancefloor-Sound | |
Trotzdem merkt man Maria Minerva die lange Kunstpause an – nicht nur wegen | |
der antizyklischen Veröffentlichungsstrategie. Ihr Popdancefloor-Sound legt | |
eine seltsam entrückte Zeitlosigkeit an den Tag. Ab von (Mikro-)Trends und | |
retromaner Neunziger-Wiederkäuerei scheint „Soft Power“ in den frühen | |
zehner Jahren hängen geblieben. | |
So geben die Lo-Fi-Drums bei „Had Me at Hello“ und die Synth-Hookline von | |
„I Could Be Your Best Friend“, die astreine Debbie-Harry-Referenz „Down L… | |
(Motor City You Make Me Wanna)“ und der mitreißende (Fake-)Piano-House-Hit | |
„Apology“ durchaus erquickliche Impulse für zukünftige Tanznächte. | |
„Soft Power“ ist der ideale Soundtrack für Gespräche im Außenbereich von | |
Clubs, die erst enden, wenn die Sonne auf- und dann untergeht; an leicht | |
„klebrige“ Come-together zwischen Katerfrühstück und Kontersekt; kurz: an | |
glücklichere Zeiten. In einem normalen Jahr wäre „Soft Power“ womöglich | |
durchgefallen, versehen mit dem Stempel „outdated“. Im verrückten 2020 ist | |
es aber eine wirkungsvolle Reminiszenz an ein Leben vor der Pandemie; | |
berührend, naiv und immer stimmungsaufhellend. | |
Die neuerliche Hiobsbotschaft, dass Minerva, ihr Mann, der ebenso | |
talentierte Produzent Nick Malkin, und Teile ihrer Familie positiv auf | |
Covid-19 getestet worden sind, passt leider ins Bild einer Zeit, die so | |
schöne Momente wie diese schlichte elektronische Popmusik einfach nicht | |
stehen lassen will. | |
9 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Lars Fleischmann | |
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