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# taz.de -- Clubkultur und Coronakrise: „Tanz mit mir den Galgentanz“
> Berlins Clubkultur ist in Gefahr. Gentrifizierung und Coronapandemie
> setzen ihr zu. Eine Momentaufnahme vor dem neuerlichen Feierstopp ab
> Montag.
Bild: Auch sie kämpft ums Überleben. Blick auf den leeren Dancefloor der Berl…
Sie haben gerade wenig zu feiern: Clubbetreiber*innen,
Mitarbeiter*innen und DJs. Optimismus gibt es in der Berliner
Feierszene trotzdem. Ihr dringend benötigter Hoffnungsschimmer liegt mitten
in einem Industriegebiet. Dorthin ist der ehemalige [1][Neuköllner Club
Griessmühle] gezogen und hört nun auf den sperrigen Namen „Revier Südost�…
Das Etablissement liegt in Schöneweide, außerhalb des S-Bahn-Rings, der die
Innenstadtbezirke Berlins einhegt. Den kurzen Weg vom S-Bahnhof zum Club
ziert eine Tankstelle, eine Shoppingmall und ein Einkaufsmarkt. Die
Schöneweider*innen erledigen hier ihre Einkäufe. Nur wenige hundert Meter
weiter findet ein Rave statt, den man da weder hört noch spürt.
Vor der alten Bärenquell-Brauerei torkeln dann doch Überbleibsel vom
Dancefloor über den Gehweg. Hinter den Mauern tobt die Party auf
Hochtouren. „Tanz mit mir den Galgentanz / Solange wir noch nicht hängen“,
heißt es in [2][einem melancholisch-düsteren Edit], den die Berliner
Star-DJ Ellen Allien im Außenbereich auflegt. Auch wenn es makaber klingt,
die Zeile aus einem Song des Darkwave-Duos Lebanon Hanover trifft auf die
Berliner Clubszene zu.
## Die Schlinge um den Hals
In diesen Tagen scheint es, als ob sich die Schlinge entscheidend enger um
ihren Hals legt. Die wenigen verbleibenden Veranstaltungen sollen laut der
am Mittwoch beschlossenen Maßnahmen erst einmal untersagt werden. In dem
Papier heißt es, dass Gruppen feiernder Menschen angesichts der ernsten
Situation „inakzeptabel“ seien. Das gilt gleichermaßen für private Feiern
wie öffentliche Veranstaltungen. Während im Bundeskanzleramt diskutiert
wurde, zogen zeitgleich rund 8.000 Anhänger*innen des Bündnisses
#AlarmstufeRot durch Berlin. Konkret fordert es ein weitreichendes
Hilfsprogramm für alle Akteur*innen der Veranstaltungsbranche.
Dafür engagieren sich auch viele Initiativen aus dem Umfeld der Clubszene.
Nicht nur Betreiber*innen und Mitarbeiter*innen kleiner wie großer
Clubs müssen um ihre Existenz bangen. Selbst einer etablierten
Technokünstlerin wie [3][Ellen Allien] geht die Situation an die Substanz.
„Ich lebe von dem Geld, was ich gespart habe. Das ist langsam alle“,
berichtet sie wenige Tage nach dem Rave. Ihr Booker arbeitet mittlerweile
in einem Sneakerladen, sie bekommt als Chefin des Labels BPitchControl noch
regelmäßig Lohn.
Personalprobleme beschäftigen auch Clubbetreiber*innen. „Für uns haben
Leute gearbeitet, bei denen man nicht unbedingt davon ausgehen kann, dass
sie der Sache treu bleiben. Die müssen sich umorientieren und merken dann
vielleicht, dass sie gar nicht mehr zurückwollen“, sagt [4][Finn
Johannsen]. Er ist nicht nur DJ, sondern kuratiert auch das Programm der
Paloma Bar am Kottbusser Tor in Kreuzberg. Gemeinsam hat man eine Idee für
die Zwischennutzung gefunden.
## Ersatzweise Ausstellungsraum
Mit Fördergeldern des landeseigenen Musicboard hat er die Ausstellungsreihe
„Double Vision“ konzipiert. Neben visuellen Künstler*innen legen hier am
Wochenende auch DJs auf. Getanzt werden darf trotzdem nicht. Für
coronakonforme Raves ist die Paloma Bar viel zu klein. „Wenn wir einen DJ
hingestellt hätten, hätte der für 15 Leute gespielt. Das ist sinnlos, damit
kann man kein Geld verdienen“, erklärt Johannsen. Einen nutzbaren
Open-Air-Bereich hat die [5][Paloma Bar] auch nicht.
Wenn in Berlin gerade noch irgendwo legal getanzt werden darf, dann nur
unter freiem Himmel. Die Hygieneregeln gelten auch auf dem Dancefloor:
Maske, Abstand, Kontaktverfolgung. So feierte man von August bis September
unter anderem im Berghain-Garten, in der Else und dem Oxi-Garten. Seit
Anfang September hat auch wieder die Griessmühle offen. Nebenan öffnete der
Baergarten, wo auch Pizza und Bier im Außenbereich serviert werden. Am
Neuköllner Kiehlufer eröffnete das Kollektiv zudem eine Bar.
Sowohl Griessmühle als auch Paloma Bar haben im Frühjahr erfolgreiche
Crowdfunding-Kampagnen umgesetzt. Die Paloma Bar sammelte circa 27.000
Euro, die Griessmühle 61.000 Euro per Startnext. Bereits Anfang des Jahres
startete die Griessmühle eine Petition für den Erhalt des alten Standorts
an der Sonnenallee, direkt am S-Bahnhof Sonnenallee. Anfang Februar wurde
dort zum letzten Mal gefeiert, bis zum Corona-Shutdown der
Veranstaltungsbranche im März feierte man als Zwischenlösung in der Alten
Münze und dem Polygon Club.
## Baupläne des Investors
Wegen Bauplänen des Investors wurde dem Club Anfang des Jahres gekündigt.
Trotz erfolgreicher Petition und Unterstützung seitens der Berliner Politik
konnte der Standort nicht gerettet werden. Das ehemalige
Griessmühle-Gebäude an der Sonnenallee wurde mittlerweile abgerissen.
Immerhin erinnert die neue Location an den alten Charme eines weniger
kommerziellen Berlins.
Das könnte sich aber bald ändern: Das Brauereigelände gehört einem
israelischen Investor. Neben dem Club sollen in den nächsten Jahren Büros,
Einzelhandelsgeschäfte und eine Privatuniversität in Schöneweide entstehen.
Schon jetzt kann im Revier Südost nicht gänzlich ungestört gefeiert werden.
Anrainer*innen beschwerten sich über Ruhestörungen, Veranstaltungen mussten
wieder abgesagt werden.
Nicht nur wegen des unbeständigen Berliner Herbstwetters, sondern auch,
weil sich die Clubber*innen in der Schlange nicht an die Coronaregeln
gehalten haben sollen. Auf das Verhalten der Szene wird ein besonderes
Augenmerk gelegt, nicht nur von Polizei und Ordnungsamt, sondern von ganz
oben. „Wir müssen das Nachtleben ausschalten“, erklärte die Berliner
Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci schon am 8. Oktober im Deutschlandfunk.
## Legale Alternativen
Wobei Nachtleben in diesem Herbst nicht gleich Nachtleben bedeutet. Wenn
Politiker*innen über die Feiern in Berlin sprechen, differenzieren sie
nicht zwischen illegalen Partys und deren wenigen legalen Alternativen.
Zwar bleibt auch beim Besuch von legalen Open-Airs ein Restrisiko. Das
dürfte mit Abstand, Maske, frischer Luft und Kontaktverfolgung aber kaum
größer sein als eine Fahrt mit der Ring-S-Bahn.
Tatsächlich geben die Daten ein anderes Bild her, als die Politik gerade
vermittelt: Lediglich ein Club-Ausbruch mit vier Fällen ist im Juli bekannt
geworden. Ob es sich dabei um eine Indoor- oder Open-Air-Veranstaltung
handelte, ist nicht überliefert. „Wir haben gut bewiesen, dass man ohne
eine Steigerung der Zahlen sehr viele Veranstaltungen machen konnte“,
resümiert Lutz Leichsenring von der Club Commission. Auch er befürchtet,
dass die Feierenden sich vermehrt im privaten Raum treffen, wo Abstand,
Kontaktverfolgung und Masken nicht gegeben sind. Das wird durch Sperrstunde
und Alkoholverbot noch bestärkt, fürchtet Leichsenring. „Illegale
Aktivitäten waren immer Teil von Stadtgesellschaft und Clubkultur.“
## Neue Partykonzepte
Mit Abstand, Maskenpflicht und Hygienemaßnahmen will der Verband der
Berliner Club-, Party- und Kulturereignisveranstalter auch in Zukunft
legale Alternativen schaffen. Die sollen nicht nur open-air, sondern auch
indoor stattfinden können. Trotz erhöhter Fallzahlen und Sperrstunde
arbeitet die Club Commission daher an neuen, coronagerechten
Partykonzepten. Derzeit bereite man einen Testlauf mit Schnelltests vor,
berichtet Leichsenring.
Die Testhubs sollen in Clubs aufgebaut werden, inklusive Testlabor und
Wartebereich. Im November wird ein solches Konzept in Barcelona per Studie
exerziert. Die Testzentren sollen aber nicht nur dem Clubbing dienen,
sondern auch einen Mehrwert für den ganzen Kiez bieten. Unabhängig von
einem Clubbesuch soll hier getestet werden.
Auch die Clubs und DJs müssen in diesen Tagen kreativen Optimismus üben.
Während in der Griessmühle noch bis Sonntag im Außenbereich gefeiert wird,
ist die Paloma Bar seit Anfang Oktober wieder geschlossen. Das Kollektiv
prüft momentan neue Ideen, die Fördergelder generieren könnten.
Das Ausstellungskonzept soll erweitert werden, auf dem neu gegründeten
Label des Clubs werden weitere Veröffentlichungen folgen. Auch Ellen Allien
baut ihre Labelarbeit aus. Der Sound ihrer „We Are Not Alone“-Partys wird
jetzt in eine Compilation zusammengefasst. Wie die gesamte Szene hofft sie,
dass es irgendwie vorwärtsgeht. In einem ist sie sich sicher: „Die Szene
wird weiter laufen, es wird einen totalen Berlin-Hype geben.“
Dass sie von einem wiederkehrenden Hype profitiert, denkt die Paloma Bar
hingegen nicht. „Bald werden die Schuldenberge zu hoch. Dann kann es
passieren, dass die Clubs umfallen wie Dominosteine“, fürchtet Johannsen.
„Wie wir alle wissen, warten hinter jedem Leerstand Investoren, die nur
darauf brennen, zuzuschlagen. Ich fürchte, dass jeder Club, der durch diese
Pandemie schließen muss, dann für immer verloren ist.“
30 Oct 2020
## LINKS
[1] /Kampf-um-Club-Griessmuehle-in-Berlin/!5655903/
[2] https://www.youtube.com/watch?v=ne6SyM3r-b0
[3] /Montagsinterview-mit-Ellen-Allien/!5141912/
[4] /Disco-Kultur-in-New-York/!5379098/
[5] /Corona-und-Feiern-in-Berlin/!5677197/
## AUTOREN
Louisa Zimmer
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