| # taz.de -- Neues Album von Crooked Man: Jammern ist nicht | |
| > Der Sound von Crooked Man trägt nie zu dick auf und klingt doch | |
| > ausdrucksstark. Auch auf seinem neuen Dancefloor-Album „Crooked House“. | |
| Bild: „Bei Dancefloormusik geht’s ums Tanzen und nicht um mich als Performe… | |
| Richard Barratt knippst das Licht aus, als er mit dem Hund rausgeht. | |
| Wickelt sich in den Schal und stapft los. Als „eco-friendly“ bezeichnet | |
| sich der Produzent, der im Peak District lebt, einem Mittelgebirge zwischen | |
| Sheffield und Manchester in Nordengland. Wo der Wind im Herbst gefühlt | |
| schon so pfeift wie ein Eissturm im Januar. Wo es nasskalt ist, obwohl es | |
| gar nicht regnet. Und wenn der Himmel weint, Barratt bewahrt Haltung. | |
| Erfolg definiert der Stoiker daher etwas zurückhaltender als andere: „Mein | |
| Aufnahmestudio verursacht kaum Kosten, ich kann mich damit über Wasser | |
| halten. Was mich glücklich macht, solange ich dort mit meinen Freunden | |
| Musik machen kann.“ Barratt arbeitet für KollegInnen als Toningenieur im | |
| Hintergrund. Alben und Songs des irischen Popstars Roísín Murphy mischt er | |
| beispielsweise regelmäßig und wirkt auch als Arrangeur auf ihren Alben mit. | |
| Seit Mitte der Achtziger prägt Barratt die Musikszene seiner Heimatstadt | |
| Sheffield mit, er ist ein Multiplikator, vermittelt, spielt und produziert, | |
| ist da, wenn er gebraucht wird. | |
| Aber er drängt sich nicht auf, weshalb ihn die Leute mögen. Früher hat er | |
| mit Richard H. Kirk von Cabaret Voltaire unter dem Namen Sweet Exorcist | |
| zusammen gespielt, auf seinem neuen Album wirkt Michael Somerset Ward von | |
| Clock DVA mit, beide sind Legenden des großen, schrägen Sheffield-Pop. | |
| Mit mehreren seiner eigenen Projekte hat Barratt Hits gelandet, The All | |
| Seeing I zum Beispiel, aber das ist für ihn vollkommen nebensächlich. | |
| Letztendlich ist es die Schwerkraft, die ihm Bodenhaftung verleiht. | |
| ## Crispe, extrem präsente elektronische Tanzmusik | |
| Unter dem Namen Crooked Man veröffentlicht Richard Barratt seit 2011 | |
| crispe, [1][extrem präsente elektronische Tanzmusik mit einem guten Schuss | |
| Soul]. Auf gerade zwei Alben hat er es seither gebracht, nicht viel, aber | |
| exzellenter Stoff. | |
| Einzelne Tracks veröffentlicht er, wenn es sein muss, auch anonym, so wie | |
| zwei der Tracks seines neuen Albums „Crooked House“, die er in luxuriösen | |
| Fassungen zunächst inkognito unter die Leute gebracht hat. Die wenigsten | |
| haben seine Handschrift erkannt. Der Song „Echo Loves Narcissus“ lief 2017 | |
| trotzdem in vielen Clubs. | |
| „Als Tänzer habe ich diejenigen Songs geliebt, die endlos weiterdrehten. | |
| Nummern, in denen man sich verlieren konnte“, erklärt er diese Logik. „Bei | |
| Dancefloormusik geht’s ums Tanzen und nicht um mich als Performer. Egal wer | |
| das Ding produziert hat, was zählt, sind der Rhythmus und das Sentiment, | |
| das aus der Musik spricht.“ | |
| Aus der eingängigen Musik von Crooked Man spricht etwas ganz Fundamentales: | |
| Resilienz, genaue Kenntnis der Härten des Lebens, aber auch das Recht auf | |
| Rausch und die Traditionspflege von Pop als urdemokratischer Kunstform. | |
| Man muss wissen: In Nordengland ist Pop Volkskultur. Barratt hat ein Ohr | |
| auf der Straße, man hört seiner Musik die Verlebtheit an, dafür wird sie | |
| auf Hochzeiten, Bar-Mizwas und Beerdigungen gespielt. Wie das genau | |
| funktioniert, lässt sich bei „Here on Earth“ erkunden, einem der neun Cuts | |
| auf dem neuen Album „Crooked House“. | |
| Im Shufflebeat taumelt und stolpert der Track vorwärts, „Open the Door / | |
| Step into the Light / Another Day / Here on Earth“ trägt der Singende | |
| (Barratts Kumpel David Lewin) vor und man weiß sofort, woran man ist: | |
| Könnte ein schwieriger Tag werden. Egal, Galgenhumor ist der | |
| Außenbordmotor, der dabei hilft, durchzukommen. „Can’t figure out how to | |
| make the system work for me“. | |
| Hierbei klingt der Sänger wie das Gegenteil: Lewin singt mit Verve, auch | |
| wenn er sich im Text kurz aufregt über die Ignoranz, die ihm beim | |
| Überlisten des System entgegenschlägt. Er klingt gefasst. Wie im | |
| Wartezimmer vom Hausarzt, beim Termin auf dem Amt. Crooked Man macht | |
| sozialen Realismus. Das Pompöse und das gefühlige Jammern sind seine Sache | |
| dagegen nicht. „Im wahren Leben wird genug gejammert, bitte nicht auch noch | |
| in Popsongs!“, erklärt Barratt lakonisch. | |
| „Take it all away“ heißt ein besonders upliftendes Stück auf seinem neuen | |
| Album. „Das ist ein anti-konsumistischer Disco-Hit“, erklärt Barratt. „Er | |
| handelt davon, dass man nicht erstickt, wenn Geld alles zuscheißt, denn der | |
| Alltag an sich trägt schon schwer genug.“ | |
| ## Ausdrucksstark genug, um sinnlich zu sein | |
| Barratts Partnerin Rachel Edmondson singt „It ain’t no use / I’m addicted | |
| to you“, man fühlt mit ihr und spürt, dass es hier nicht um grelle Schminke | |
| und eine theatralische Liebesbekundung geht, sondern darum, jemandem auch | |
| mal die Handtasche über den Kopf zu zimmern. Barratt spielt dazu ein | |
| Gitarrenriff, macht einen kurzen Wisch über die Orgel, fertig ist die | |
| Laube. | |
| Und überhaupt, der Sound von Crooked Man trägt nie zu dick auf und klingt | |
| doch ausdrucksstark genug, um sinnlich zu sein. „Wenn mir etwas gefällt, | |
| dann klingt es immer nach den Menschen, die die Musik gemacht haben, dafür | |
| stehe ich auch mit meinem Sound als Crooked Man ein.“ | |
| In Sheffield ist die größte Mall Großbritanniens, Meadow Hall, im Volksmund | |
| Meadow Hell genannt. Kapitalismus hat dort wenig mit sozialer | |
| Marktwirtschaft zu tun, er schmeißt sich viel krasser an die Leute. „Hier | |
| spürt man schon eine große Krise heraufziehen, das hat nicht nur mit dem | |
| baldigen Brexit zu tun. | |
| Ich befürchte, dass die Menschen in Westeuropa und den USA erst dann aus | |
| ihrem Tiefschlaf erwachen, wenn die vermeintlich friedliche Zeit und der | |
| relative Wohlstand, die wir seit 1945 haben, plötzlich passé sind. Die | |
| Geschichte vor 1945 lehrt uns, dass Nationalismus und Isolationismus nur | |
| einen Steinwurf von uns entfernt liegen, und die Demagogen, die dafür | |
| stehen, sollten wir tunlichst daran hindern.“ Dann muss Barratt wieder mit | |
| dem Hund raus. | |
| 11 Nov 2018 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
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