| # taz.de -- Musikforscher über das Phänomen Rave: „Im Vorbeigehen erfunden�… | |
| > Matthew Collin erforscht die globale Dimension des Dancefloor. Ein | |
| > Gespräch über US-House-Pioniere, Partyklassismus und Raveprotest in | |
| > Tiflis. | |
| Bild: „Generell ist Techno in Georgien ein Sound, der für liberale und progr… | |
| taz: Matthew Collin, mit Ihrem neuen Buch „Rave on“ leisten Sie eine Art | |
| Inventur der internationalen Clubkultur. Was war Ihr Motiv, dafür rund um | |
| die Welt zu reisen? | |
| Matthew Collin: 1997 habe ich zusammen [1][mit John Godfrey mein erstes | |
| Buch, „Altered States“], publiziert. Es behandelte die Ursprünge von | |
| Acid-House und beschrieb, wie Ecstasy sich zur Partydroge der britischen | |
| Raveszene entwickelte. Seit damals hat sich Rave zu einer weltweiten | |
| Kultur entwickelt und findet inzwischen auch an Orten statt, die wir uns zu | |
| Zeiten der anarchischen Do-it-yourself-Raves nie hätten träumen lassen. | |
| Ich wollte also herausfinden, wie sich Szenen regional voneinander | |
| unterscheiden und wissen, ob all die Standards, die anfangs der Neunziger | |
| Bestand hatten, heute noch etwas zählen: Rave war eine liberale und | |
| tolerante Kultur und ich untersuche mit „Rave on“, ob diese Dinge in der | |
| kapitalistischen Welt der Gegenwart noch etwas bedeuten. | |
| Historisch korrekt lassen Sie Ihr Buch in Chicago beginnen, am Geburtsort | |
| von [2][House Music]. Sind Sie der Meinung, dass die afroamerikanischen | |
| Pioniere des Dancefloorsounds für ihre Leistungen genügend gewürdigt | |
| werden? | |
| Nein! In den USA wird zwar von EDM als Abkürzung für Electronic Dance Music | |
| gesprochen, ein weißes Mainstream-Phänomen mit DJ-Stars, die mit ihrem | |
| Kirmestechno ganze Stadien füllen. Aber auch heute wissen US-Popfans nicht | |
| wirklich, dass der Sound ursprünglich von afroamerikanischen KünstlerInnen | |
| in Chicago und Detroit geprägt wurde. Und genau deshalb fange ich auch mit | |
| Frankie Knuckles an, denn er war ein Pionier. Der Club, in dem er Mitte | |
| der Achtziger als DJ aufgelegt hat, das Warehouse in Chicago, gab dem Genre | |
| House auch den Namen. Und als Frankie Knuckles 2014 gestorben ist, fängt | |
| auch die Erzählung in meinem Buch an. Sehr viele der ProduzentInnen, mit | |
| denen ich in Chicago und Detroit sprach, haben sich darüber beklagt, dass | |
| ihre Leistungen in der Heimat wenig bis gar nichts zählen. | |
| Anerkennung gab es überhaupt erst über den Umweg England und Berlin. | |
| Das stimmt, erst dort wurden die US-MusikerInnen für ihre Kunst gewürdigt, | |
| die mehr bedeutet als nur repetitive Beats und monotones Synthie-Wabern. | |
| Und daher ist es aktuell umso wichtiger, die Leute in Chicago und Detroit | |
| als Erfinder einer äußerst universellen Form von Popmusik im Kopf zu | |
| behalten, vor allem, weil die Pioniere glauben, dass sie selbst gar nicht | |
| dazugehören. Und das liegt zum Teil am institutionalisierten Rassismus, den | |
| es in der US-Popkultur leider gibt. Künstler wie Frankie Knuckles haben | |
| House quasi im Vorbeigehen erfunden. Es gab vorher nichts, woran sie sich | |
| ein Beispiel hätten nehmen können, sie haben erst die Szene begründet, auf | |
| die sich später alle einigen konnten. Ihre Musik verdankt sich spontanen | |
| Eingebungen, die Innovationen fanden ihren Weg direkt auf Vinyl. Alles, was | |
| seit 1987 an elektronischer Tanzmusik veröffentlicht wurde, folgt der | |
| Blaupause jener Originale. | |
| Ist die Situation heute mit damals vergleichbar? | |
| Ja, denken Sie an den berühmten afroamerikanischen DJ Jeff Mills, der | |
| inzwischen auch mit Orchestern arbeitet. Nach wie vor hat er keine Vorlage | |
| dafür, wie sich seine Musik weiterentwickelt. Er arbeitet intuitiv. | |
| Nun ist elektronische Musik nicht automatisch künstlerisch wertvoll und | |
| ästhetisch brillant, wie Sie am Beispiel Las Vegas herausarbeiten, wo es | |
| eine blühende elektronische Dancefloorkultur gibt. | |
| In Las Vegas war es sehr bizarr. Ich besuchte einen Club, in dem der DJ | |
| Steve Aoki aufgelegt hat. Besucher wurden nach Klassen getrennt | |
| untergebracht. Je nachdem, wer mehr Eintritt bezahlte und einflussreicher | |
| war, durfte näher am DJ-Pult sitzen. Es gab einige Sitzecken direkt dort, | |
| wo die Superreichen saßen, dann gab es welche für Gäste, die teure Flaschen | |
| Champagner bestellt hatten, während das einfache Volk in einem abgesperrten | |
| Bereich abseits der Tanzfläche einquartiert wurde und den Dancefloor gar | |
| nicht betreten durfte, der blieb allein den Reichen reserviert. | |
| Was hat das noch mit der egalitären Ravekultur zu tun? | |
| Wenig, obwohl in beiden Szenen elektronische Dance Music gespielt wird. In | |
| Las Vegas allerdings in einer Form, die Puristen ideologisch wertlos und | |
| ästhetisch minderwertig beurteilen; technisch gesehen, ist beides | |
| Dancefloor. Ich maße mir da keinerlei moralische Werturteile über | |
| Vergnügungen anderer Leute an. Aber in Las Vegas beschlich mich das Gefühl, | |
| dass alle schwarzen und schwulen Untertöne aus dem Sound ausgesiebt waren, | |
| um weißen Jugendlichen den Gefallen zu tun, dass sie nicht an das Wort | |
| Disco denken müssen, denn das ist für das konservative Amerika nach wie vor | |
| ein Unwort. | |
| Frankie Knuckles hatte vom Housesound einst als „Rache für Disco“ | |
| gesprochen … | |
| Wenn man zurückdenkt an den massiven Backlash gegen Disco am Ende der | |
| Siebziger, dann war das ganz klar auch den rassistischen und homophoben | |
| Vorurteilen jener Jahre geschuldet. Auch EDM-Musik, die in Las Vegas | |
| gespielt wird, ist deutlich hörbar mit Techno und House verwandt, aber | |
| ihrer subkulturellen Wurzeln enthoben, das ist das Ärgerliche. | |
| Innovationen machen die einen, aber die anderen verdienen damit Geld. | |
| Bleibt das unter dem Strich übrig von Ravekultur? | |
| Man kann leicht zynisch werden, angesichts einer Nightlife-Industrie, die | |
| weltweit jährlich umgerechnet an die sechs Milliarden Euro Umsatz macht. | |
| Angesichts von DJs, die wie die Stars in Las Vegas nonstop um die Welt | |
| fliegen und pro Engagement 350.000 Euro einstreichen, was kein Normalraver | |
| nachvollziehen kann. | |
| Sie seien depressiv geworden in Las Vegas, schreiben Sie, im weiteren | |
| Verlauf finden Sie ausgerechnet in Dubai Trost. Warum heißt das Kapitel | |
| „Aliens in der Wüste“? | |
| Ich befürchtete, dass es dort genauso sein würde wie in Las Vegas: eine | |
| riesige Shopping-Mall, null Kultur. Dass dort einzig Kapitalismus regieren | |
| würde und Geld eine Gottheit sei. Und es war auch extrem kommerziell, aber | |
| mittendrin habe ich iranische Migranten kennengelernt, die im Keller des | |
| Holiday-Inn-Hotels in Dubai Technopartys schmeißen. Das hatten sie ein paar | |
| Jahre zuvor auch schon in Teheran gemacht, aber dann kamen sie deshalb in | |
| Konflikt mit den Religionswächtern. Und einer von ihnen wurde von den | |
| Behörden wegen der Organisation eines illegalen Raves mit Peitschenhieben | |
| bestraft. Auch daher fand ich die Szene in Dubai auf ihre Art radikal und | |
| alienmäßig. Die haben sich da in dem Keller selbst verwirklicht. | |
| In Berlin ist Clubkultur längst eine Schlüsselindustrie, die Abertausende | |
| Touristen in die Stadt zieht. Wenn es um sehr viel Geld und übergeordnete | |
| wirtschaftliche Interessen geht, geht das dann zulasten der Toleranz? | |
| Das hängt sehr stark von den BetreiberInnen ab und ihrem Willen, dass sie | |
| den Spirit bewahren und die Zonen der Toleranz verteidigen. Ich mag Berlin | |
| und ich glaube, die Stadt ist in vielerlei Hinsicht gefestigter, aber auch | |
| liberaler als vergleichbare Metropolen. Ich fand großartig, wie viele | |
| Menschen die Berliner Clubs bei ihrer Demonstration „AfD wegbassen“ auf die | |
| Straßen gebracht haben. Das fühlte sich an wie zu den Anfangszeiten der | |
| Love Parade. Andererseits, Geschäftsleute, die jede Nacht Tausende Euro | |
| einnehmen, wachen nicht am nächsten Tag auf und denken als Erstes daran, | |
| wie sie die Welt zu einem besseren Ort machen. Dennoch habe ich zuletzt | |
| feststellen können, dass es eine große Anzahl von ClubbetreiberInnen und | |
| Kollektiven gibt, die die Dancefloorkultur an die Ideen von früher erinnern | |
| und ihr Programm nach integrativen und toleranten Gesichtspunkten | |
| gestalten. Und man sollte nie vergessen, alles Reden, alle Manifeste sind | |
| wohlfeil, aber es geht um die Party. | |
| Manche Protagonisten in „Rave on“ setzen für die Party sogar ihre Freiheit | |
| aufs Spiel. | |
| Ja, im georgischen Tiflis fand ich das sehr beeindruckend. Es gibt dort | |
| einige Clubs, die für LGBT-Menschen offen sind. Generell ist Techno in | |
| Georgien ein Sound, der für liberale und progressive Ideen steht. Ob Zufall | |
| oder nicht, genau in jenen Clubs fanden im Frühling Razzien statt. Es hieß, | |
| man suche nach Dealern, aber es kam dann raus, dass die Dealer bereits vor | |
| den Razzien verhaftet wurden. Und so wirkte das eher wie der Versuch, | |
| RaverInnen einzuschüchtern. Das Tolle war dann, dass sie aus Protest ein | |
| Soundsystem vor dem alten Parlamentsgebäude installierten und zwei volle | |
| Tage blieben, bis der Innenminister persönlich vorbeikam und sich für die | |
| Razzien entschuldigte. Mehr als 30 Jahre nachdem in Chicago und Detroit | |
| eine kleine Subkultur mit minimalem Equipment den Dancefloorsound | |
| revolutioniert hat, gibt es Menschen, denen die Musik und die Atmosphäre | |
| von Partys so viel bedeuten, dass sie dafür auf die Straße gehen. Und das | |
| ist doch der Kern, um den es hier eigentlich geht. | |
| 23 Sep 2018 | |
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| Julian Weber | |
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