| # taz.de -- Clubkultur-Ausstellung „Night Fever“: Dancefloor als Happening | |
| > Weder Tanzsaal noch Theater: Die Ausstellung „Night Fever“ in Weil am | |
| > Rhein zeigt die Entwicklung von der Diskothek zur Clubkultur. | |
| Bild: Radical Style in Italien: Diskothek „Flashback“ in Borgo San Dalmazzo… | |
| Love will save the day“: Rote Leuchtbuchstaben weisen vor dem | |
| Museumsgebäude den Weg in eine Vergangenheit, die zur Abwechslung mal | |
| glorreich ist. Die Ausstellung „Night Fever“ beginnt mit einem Grundriss. | |
| „Ich möchte gerne einen riesigen Flipperautomaten eröffnen, einen Ort, an | |
| dem sich junge Leute treffen und Herkunft, Bildung und Schönheit keine | |
| Rolle spielen“, schwebte dem Römer Alberigo Crocetto 1965 vor. Dafür fand | |
| er den Saal eines gebauten, aber nie eröffneten Kinos geeignet, nannte ihn | |
| „Piper Club“ und beauftragte für den Innenausbau den jungen Architekten | |
| Francesco Capolei. | |
| Dessen preiswerten Designideen waren gleich in mehrfacher Hinsicht | |
| radikal: So verwendeten er und sein Kompagnon Manlio Cavalli Gerüststangen, | |
| Eierkartons, Gummi und Plexiglas als Baustoffe, unterteilten den hohen Raum | |
| durch verschiebbare Podeste in verschiedene Ebenen. | |
| An die Wand waren simple Lichtprojektionen geworfen, durch die die Schatten | |
| der Tanzenden den Betrachtern eine andere Realität vorgaukelten. Auch die | |
| statische Raumordnung – Musiker auf der Bühne und Zuschauer davor – war | |
| somit verworfen. Die Diskothek war weder Tanzsaal noch Trattoria noch | |
| Theater. Capolai inszenierte als einer der Ersten Nachtleben als Happening | |
| und feierte das Flüchtige. Die Diskothek wurde zum sozialen Experiment in | |
| einem geschützten Raum, in dem BesucherInnen mehr gedanklichen Freiraum | |
| zugestanden bekamen, als nur zu konsumieren. | |
| ## Multimediale Ausrichtung | |
| Capoleis Entwürfe und die weiterer italienischer Club-Designer in Florenz, | |
| Turin und Rimini stehen zu Beginn der Ausstellung „Night Fever. Design und | |
| Clubkultur, 1960 bis heute“ im Vitra Design Museum in Weil am Rhein. Der | |
| Begriff Diskothek wurde zwar ursprünglich in Frankreich geprägt, aber das | |
| Italien der Sechziger war das erste Mekka jener neuartigen multimedialen | |
| Ausgehkultur, bei der zu Schallplatten getanzt wurde, eine Lightshow | |
| flimmerte, Bands spielten und Filme liefen. Die wildwüchsigen | |
| architektonischen Do-it-yourself-Provisorien waren eine Antithese zum | |
| kühlen und monotonen International Style. | |
| Was für eine famose Idee, in Fotografien und Worten, Filmen und | |
| Planstudien, Texten und Tönen jene Veranstaltungsorte zu dokumentieren. Das | |
| Nachtleben als Hort von Kultur beschäftigt uns zwar seit geraumer Zeit, | |
| aber durch die temporäre Existenz seiner Orte besteht immer Gefahr, dass | |
| die Umstände seiner Entstehung in Vergessenheit geraten. | |
| Nachtleben-Ambiente, das zeigt „Night Fever“ sehr anschaulich, ist eine | |
| Spielwiese für künstlerisch-gestalterische Experimente, diese schaffen Raum | |
| für Subversionen von gesellschaftlichen Normen und für exzentrische | |
| Gestaltungsideen. Waren Drogen vorher ein Tabu, die im Versteckten | |
| konsumiert wurden, zeigten sich ihrer Einflüsse in den frühen Diskotheken | |
| von New York und Montreal offen. | |
| ## Synthesizerexperimente und Op-Art Plakate | |
| Die bubble-artige Plastikeinrichtung des Clubs „Le Drug“ in Montreal und | |
| die synästhetischen Klang- und Lichterfahrungen des New Yorker Clubs „The | |
| Electric Circus“ (1967–71) seien hier genannt. Mit Flickerfilmprojektionen | |
| und Synthesizersound prägten im „Circus“ der Synthesizer-Pionier Don Buchla | |
| und der Komponist Morton Subotnik eine neue Rundumerfahrung, während Tomi | |
| Ungerer für den Club Op-Art-Werbeplakate gezeichnet hatte, auf denen | |
| Cartoon-Figuren aus einem Toaster als flache Brote herausfloppen. Ein | |
| nervöser Schriftzug wurde zum Markenzeichen des Clubs. | |
| Musik spielt bei „Night Fever“ eine Hauptrolle. In einer zentralen, von dem | |
| Münchner Designer Konstantin Grcic und dem Lichtbildner Matthias Singer | |
| gestalteten immersiven Installation innerhalb eines rechteckiges Bands aus | |
| Albumcovern, massieren Lichtblitze und fluoreszierende Neonröhren die | |
| Retina. Auf Kopfhörern, die von Stahlträgern auf einer erhöhten Tanzfläche | |
| baumeln, hören sich BesucherInnen durch [1][Dancefloor-Tracks], quer durch | |
| alle Genres bis zur Gegenwart. Tanzmusik mag heute als Kulturgut akzeptiert | |
| sein, viele Gebäude, in denen Clubs untergebracht waren, sind aber | |
| abgerissen, was die Mythenbildung nur verstärkt hat. | |
| Dass das New York der siebziger Jahre als Puls der Diskotheken-Welt gilt, | |
| liegt auch an der Aura seiner Clubs. Ausgefuchste Verstärkeranlagen, | |
| sexuelle Libertinage, Drogenexzesse und endlose Nächte, hier wurden | |
| (Alp-)Träume von NachtschwärmerInnen wahr und Weltkarrieren begründet. In | |
| einem großen Saal vereint „Night Fever“ zentrale Orte und Protagonisten | |
| jener Ära: Fotos, Filme, Garderobenstücke, sogar der Schaltplan der | |
| DJ-Anlage aus der [2][„Paradise Garage“] ist zu sehen. | |
| ## Elektronische Emotionen | |
| Dieser in einer Parkgarage befindliche Club war Wallfahrtsort der Schwulen | |
| und Musikliebenden. Im „Studio54“ tummelten sich die Stars und Prominenten, | |
| wie Grace Jones, Bianca Jagger und Andy Warhol, aber auch sie mussten an | |
| den gefürchteten Türsteher-Diktatoren vorbei. In der „Paradise Garage“, d… | |
| Keith Haring und Jean-Michel Basquiat frequentierten, wurde dagegen das | |
| begründet, was heute als DJ-Kultur Weltgeltung hat: Larry Levan | |
| beschäftigte einen Toningenieur. Der kalibrierte Levans mit von einem | |
| Mischpult und zwei Plattenspielern erschaffene elektronische Emotionen. | |
| Der eingangs zitierte Satz „Love will save the day“ wiederum war Motto der | |
| Eröffnungsnacht des halbprivaten queeren Clubs „Loft“ in Chinatown. Sein | |
| Besitzer [3][David Mancuso] beschwor damit eine friedfertige | |
| LSD-Atmosphäre. Was für ein Unterschied zum aggressiven Branding heutiger | |
| Clubkultur, wo – wie beim Londoner Riesenclub „Ministry of Sound“ – auch | |
| ein Fitness-Salon zum Portfolio gehört: [4][Work your body]. „Night Fever“ | |
| verschweigt Pleiten, Pech und Pannen nicht: irre Geschäftsideen und der nie | |
| realisierte Größenwahn des „Tresortower“ von Dimitri Hegemann, den er Mit… | |
| der Neunziger am Leipziger Platz in Berlin eröffnen wollte, sind zu | |
| bewundern. Einziges Manko der Ausstellung: das Nachtleben Münchens, | |
| Hochburg der westdeutschen Disco-Ära, wird nur mit dem eher unbedeutenden | |
| Club „Yellow Submarine“ im knallbunten Schwabylon-Hochhaus abgedeckt. | |
| Fokussiert wird auf den angloamerikanischen Raum. Auch wenn, wie vom Club | |
| [5][„Hacienda“] in Manchester, nur mehr Poller übrig sind und ein kleines | |
| quadratisches Stück des Tanzbodens, das an einer Wand lehnt. Fehlte nur | |
| noch, dass man in Flaschen abgefüllten Geruch im Museumsshop erwerben kann. | |
| ## Boomt auch in Beirut | |
| Clubkultur boomt heute nicht nur im Westen, wie Panoramafotos des Clubs | |
| „B018“ im ehemaligen Hafenviertel von Beirut zeigen. Während des | |
| libanesischen Bürgerkriegs waren dort Flüchtlinge untergebracht, heute | |
| sieht der in einem Parkplatz versenkte Club aus wie ein unterirdisches | |
| Waffensilo. Die Tische sind Särgen nachempfunden, Geschichte spricht. | |
| Im Zeichen erhöhter Mobilität der Gegenwart sind Stereo-Möbel und | |
| Verstärkerboxen selbst zu raumgestalterischen Elementen geworden: Wie | |
| Boxentürme von Soundsystems hat die Designagentur Bureau A einen | |
| brutalistischen Triumphbogen aus Bassboxen aufgetürmt. Das passt zur Mode | |
| der Pop-up-Clubs und Soundsystems, die wie Festivals umherziehen und eine | |
| ernstzunehmende Konkurrenz für eingeführte Veranstaltungsorte sind. | |
| Auch die Schattenseite zeigt „Night Fever“: einen Film des | |
| Internet-Unternehmens „Boiler-Room“. Seine erfolgreiche Geschäftsidee, | |
| Nachtleben zu filmen, inszeniert Clubkultur als Home-Entertainment: In | |
| statischen Kameraeinstellungen blicken die Viewer auf DJs und Tanzende, die | |
| wiederum ehrfürchtig auf DJs blicken. | |
| 15 Apr 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=UeiH9Mm0E5Y | |
| [2] https://www.youtube.com/watch?v=epsFK_sg1EI | |
| [3] https://www.youtube.com/watch?v=GeLQ3ts8ceQ | |
| [4] https://www.youtube.com/watch?v=wPlZ4wByPyQ | |
| [5] https://www.youtube.com/watch?v=66gk1RJgcyw | |
| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
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