| # taz.de -- Geschichte des Italo Disco: Dolce Disco | |
| > Ausgerechnet in Deutschland prägte man den Begriff des Italo Disco. Ein | |
| > Blick in die Geschichte eines Genres, das sich in keine Schublade | |
| > quetschen lässt. | |
| Bild: DJ-Maestro Daniele Baldelli in der DJ-Kapsel des „Cosmic“, Lacise sul… | |
| Im Jahr 2001 hat Alexander Arpeggio eine echte Offenbarung. Der damals | |
| 18-Jährige aus Ingolstadt hört zum ersten Mal ein Mixtape des | |
| niederländischen DJs I-F: „Die Musik klang super melodiös, aber auch | |
| repetitiv. Drummachines habe ich da erstmals klar wahrgenommen. Die | |
| Synthesizer wirkten nicht glattpoliert, sondern rau. Faszinierend war vor | |
| allem, dass die Songs edgy klangen. Im Unperfekten lag ihr Reiz – vom | |
| Gesang in gebrochenem Englisch bis zur mangelhaften Aussteuerung.“ | |
| Arpeggio will mehr von dieser Musik wissen. Er recherchiert im Netz, landet | |
| auf einer Fanpage und findet dort einen Song aus dem Mixtape wieder: | |
| [1][„Take a Chance“ von Mr. Flagio]. Als Genre steht da: Italo Disco. | |
| Heute ist Alexander Arpeggio selbst DJ und lebt als Produzent und | |
| Labelmacher von Mond Musik/Eine Welt inzwischen in Berlin. Und, er ist Teil | |
| einer lebendigen, international vernetzten (eher nordeuropäischen) Szene, | |
| für die Italo Disco als zentraler Einfluss dient. Der Musikstil, der in der | |
| ersten Hälfte der 1980er Jahre in Italien entstand, polarisiert seit jeher: | |
| Gilt er den einen als camper Geniestreich, ist er für die anderen purer | |
| Kitsch. | |
| ## Italo Boot Mixe von ZYX | |
| „Doch Italo Disco ist nicht gleich Italo Disco“, präzisiert Arpeggio mit | |
| Nachdruck. Und macht damit deutlich, dass hinter dem berüchtigten Begriff, | |
| der einst von der hessischen Plattenfirma ZYX zur Vermarktung italienischer | |
| Dance-Produktionen in Deutschland geprägt wurde, ein höchst | |
| fragmentarischer Kanon steckt: Seine Spannbreite reicht von Mainstream-Hits | |
| bis zum obskursten Underground, vom Cheesy-Naiven bis zum düsteren | |
| Auskehrsong. | |
| Im Zuge seiner Recherchen stieß Arpeggio auch auf Radio Stad Den Haag, ein | |
| holländisches Online-Radio, das nonstop Italo Disco spielt. Hier lernte er | |
| viele weitere Songs kennen und kaufte sie dann bei italienischen | |
| eBay-Händlern. Als er 2004 mit dem Auflegen begann, habe das Publikum in | |
| Oberbayern den Sound eher abgelehnt. „Selbst in Berlin war die Szene | |
| teilweise gegen Italo Disco, weil es als Pop und Trash galt.“ | |
| Trotzdem habe es weiterhin punktuell Undergroundpartys gegeben, auf denen | |
| man sich vernetzen konnte. Die voranschreitende Digitalisierung lieferte | |
| den entscheidenden Schub. Um 2010 entstanden die ersten einschlägigen | |
| Reissue-Labels, Clubnächte fanden ab dann in mehreren deutschen Städten | |
| statt. | |
| ## Obskure Seitenlinien | |
| „Berlins italophile Szene ist heute eher zersplittert. Jede*r hat einen | |
| eigenen Schwerpunkt“, erklärt Arpeggio. An seinen DJ-Abenden, unter anderem | |
| bei der von ihm kuratierten Partyreihe „Club Cosmic“ im Neuköllner | |
| Sameheads, fördert er eher die obskuren Seitenlinien von Italo Disco | |
| zutage, stets vermischt mit anderen experimentellen Einflüssen von | |
| elektronischem Dancefloor. | |
| Bei neuen Produktionen seines Labels Eine Welt ist der Italo-Bezug eher | |
| indirekt: „Uns geht es darum, den LoFi-Klangcharakter in die Gegenwart zu | |
| bringen. Deshalb arbeiten wir mit alter Hardware.“ Am Charmantesten sei | |
| diese fehlerhafte Soundqualität für Arpeggio durch den 1991 | |
| veröffentlichten Track [2][„All Is Roses“ von Sebastiano Pio] verkörpert, | |
| Spät-Italosound, in dem auch Punk, Pop und Disco-Elemente verwoben sind: | |
| „Mir vermittelt er dezente Melancholie und zugleich wirkt er upliftend.“ | |
| Für den italienischen Journalisten Fabio De Luca zeichnet genau jener | |
| melancholische Unterton Italo Disco aus. Dieser rühre von der europäischen | |
| New Wave her. Denn genau darin, und nicht in der US-Disco, liege etwas | |
| kontraintuitiv die Hauptinspiration für die Musik. Für ihre Entstehung war | |
| ein technologischer Umbruch entscheidend: Synthesizer wie der Juno und | |
| Drummachines wie die TR-808 des japanischen Unternehmens Roland wurden um | |
| 1980 erschwinglich. | |
| ## Primitiv, chaotisch, postpunkig | |
| Eine junge Generation von Produzent*innen, – meist ohne klassische | |
| Musikausbildung –, begann mit den analogen Geräten den Sound von britischen | |
| Bands wie The Human League, Yazoo und Eurythmics in kleinen Studios | |
| nachzuahmen – „primitiv, chaotisch, postpunk im wörtlichen Sinne“, bringt | |
| es De Luca auf den Punkt. Er ist der Meinung, dass Handwerk und | |
| Zufallsfaktor Italo Disco ausmachen. | |
| Die Ehe mit dem Dancefloor ergab sich aus einer praktischen Notwendigkeit. | |
| „Im Umgang mit elektronischen Geräten war es am einfachsten, mit einer | |
| rhythmischen Struktur anzufangen“, erklärt De Luca. Der metronomisch | |
| pulsierende Sound kam dabei wie gerufen, litten doch die Tanzflächen um | |
| 1980 unter dem Popularitätsschwund von US-Disco. Den bevorzugten | |
| Verbreitungskanal von Italo Disco bildeten Privatradiosender, die damals in | |
| Italien wie Pilze aus dem Boden sprossen. 1983 verhalfen sie dem Song | |
| „Vamos a la playa“ des Duos Righeira zum Sommerhit. | |
| Dem Lied, das auf Spanisch einen Besuch an einem radioaktiv verseuchten | |
| Strand thematisiert, hat [3][De Luca gerade ein Buch] gewidmet. Unabhängige | |
| Labels spezialisiert auf den Synthetiksound, hauten quasi über Nacht neue | |
| Platten raus. Mailand wurde zum Epizentrum, hier hatten Labels wie | |
| Discomagic und Il Discotto ihren Sitz. Um Profite zu maximieren, setzten | |
| sie gerne glamouröse Frontfiguren ein, die nicht selber sangen. Dabei | |
| wurden Frauen oft übermäßig sexualisiert, etwa auf Plattencovern und in | |
| Songtexten, und auf Eyecatcher und Ghoststimmen reduziert. In der Regel | |
| traten sie nur als Sängerinnen auf, während die kompositorische Rolle eher | |
| Männern vorbehalten blieb. | |
| ## Postfordistisches Projekt | |
| „Ab Mitte der 1980er wurden Silvio Berlusconis Privat-TV-Sender zum | |
| Werbeträger für Italo Disco, was den Musikstil in eine Art Hit-Fabrik, ja | |
| gar in ein fordistisches Projekt verwandelte“, sagt De Luca. Der | |
| Konsumismus resonierte in einer Gesellschaft, die erschöpft aus den | |
| sogenannten bleiernen Jahren hervorgegangen war. Nach dem faschistischen | |
| Anschlag auf der Mailänder Piazza Fontana von 1969, waren die Siebziger in | |
| Italien gekennzeichnet durch brutale terroristische Anschläge von links und | |
| rechts. Radikalisierung und Gewalt waren verbreitet, aber es herrschte auch | |
| Aufbruchstimmung. | |
| Zur Politikverdrossenheit, die in den 1980ern Fuß fasste, eignete sich laut | |
| De Luca Italo Disco als perfekter Soundtrack, denn mit seiner Inhaltsleere | |
| bediente der Stil die Sehnsucht nach Unbeschwertheit. In seiner schrillen | |
| Ästhetik mutet Italo Disco dabei oft „camp“ an, als würde es hegemoniale | |
| Geschmacksnormen herausfordern. Ein politisch subversives Zeichen liest De | |
| Luca darin aber nicht. Die Abwesenheit jeglicher sozialkritischer | |
| Botschaften war für die Gatekeeper der Hochkultur wiederum der Grund, Italo | |
| Disco als Musik zweiter Klasse zu verteufeln. | |
| Zu denjenigen, die in den Achtzigern Italo Disco verabscheuten, zählt auch | |
| Daniele Baldelli. Paradoxerweise wird der heute 71-jährige DJ im Ausland | |
| oft ausgerechnet mit diesem Musikstil in Verbindung gebracht – was ihn | |
| verärgert. Denn der [4][Cosmic-Sound, den Baldelli während seiner | |
| jahrelangen Residency in der Diskothek Cosmic in Lazise am Gardasee] prägte | |
| und sogar [5][bis nach München] strahlte, war eigentlich durch radikalen | |
| Eklektizismus und dementsprechend virtuoses Mixen gekennzeichnet. [6][„Ich | |
| vermischte diverse Genres, wie Funk, Reggae, Rock, Electro, Afrobeat – und | |
| Italo Disco, aber ohne es zu wissen“], scherzt er. | |
| ## Chinesische Rache | |
| In seinem Portfolio waren tatsächlich Stücke, die heute als | |
| Italo-Disco-Meilensteine gelten, zum Beispiel „Chinese Revenge“ von Koto | |
| und „Cybernetic Love“ von Casco. „Für mich war das schlicht elektronische | |
| Musik. Den Begriff Italo Disco verband ich damals mit einer schlechten | |
| Imitation von US-Sound – und mit der Hitparade“, erklärt Baldelli der taz. | |
| Er habe hingegen schon immer einen Hang für Produktionen abseits des | |
| Mainstreams gepflegt. Durch den Italo-Hype der letzten Jahre hat seine | |
| Berührungsangst inzwischen nachgelassen: „Ich habe sogar Einiges in meiner | |
| Sammlung entdeckt, von dem ich gar nicht wusste, es überhaupt zu besitzen.“ | |
| Die italienische Musikerin, Komponistin, Sängerin und DJ Andrea Noce musste | |
| erst nach Berlin ziehen, „um Italo Disco wirklich kennenzulernen“. In | |
| Italien hat sie mit dem Musikmachen angefangen, nach ihrem Umzug nach | |
| Berlin wird sie Teil der florierende Nu-Disco-Szene, die maßgeblich von | |
| Italo Disco beeinflusst ist. | |
| Sie besucht Clubs wie Sameheads, die queere Partyreihe „Cocktail D’Amore“ | |
| und die Raves des Kreuzberger Plattenladens Sound Metaphors: „Dort bekam | |
| ich das Gefühl, dass man sich vom harten Technodiktat der Stadt abgrenzt. | |
| Als Zeichen, dass es mehr gibt als nur das Berghain. Diese Musik ist | |
| fluider.'“ | |
| ## Weltraum statt Dolce Vita | |
| Noce kommt mit einer Spielart von Italo Disco in Kontakt, in der statt | |
| Strandurlaub und „la dolce vita“-Klischees Weltraum-Motive überwiegen: | |
| psychedelisch und halluzinatorisch anmutende Klänge, per Vocoder | |
| verfremdete Stimmen und Songtexte, die von Robotern und Aliens handeln. | |
| „Diese Space-Ecke bricht meist mit dem Machismo, der in Italo Disco sonst | |
| zur Schau gestellt wird“, merkt Noce an. [7][Die Klangwelt inspiriert die | |
| Künstlerin dazu, ihr Alias Eva Geist zu kreieren]. | |
| Unter diesem Namen tritt sie als Sängerin und DJ in Clubs auf und prägt die | |
| Italo-Szene der Gegenwart mit. Inzwischen hat sich daraus ein Projekt | |
| entwickelt, das experimentelle Elektronik, obskure Italo Disco- und | |
| Krautrock-Einflüsse vermischt. | |
| Heute lebt Noce in Rom und beobachtet, dass der Verdienst von Italo Disco | |
| trotz Achtziger-Revival zu Hause kaum anerkannt wird. „Selbst Platten, die | |
| im Ausland durch die Decke gingen, wie etwa [8][‚Spacer Woman‘ von Charlie] | |
| und ‚Musica Spaziale‘ von Patrizia Pellegrino finden in Italien kaum | |
| Beachtung.“ Dabei habe Italo Disco einen unbestreitbaren Wert, meint die | |
| Künstlerin: „Er führte eine eigene Klangsprache ein und erneuerte Pop | |
| dadurch von innen.“ Eine Innovationskraft, die wiederum auch House und | |
| Techno beeinflusst hat. | |
| 24 Aug 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=zDV_dBYp4h0 | |
| [2] https://www.youtube.com/watch?v=4PPTBBJ8JXE | |
| [3] https://www.anobii.com/de/books/oh-oh-oh-oh-oh/9791254800249/02bd445c8c5dc6… | |
| [4] /Kulturgeschichte-des-Italo-House-Sounds/!5783193 | |
| [5] /Labelportraet-Public-Possession/!5288152 | |
| [6] https://www.youtube.com/watch?v=zXeqRuXdXZw | |
| [7] https://www.youtube.com/watch?v=hlrRfTRUqTQ | |
| [8] https://www.youtube.com/watch?v=HXAoo1DsRnI | |
| ## AUTOREN | |
| Gloria Reményi | |
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