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# taz.de -- Kulturgeschichte des Italo-House-Sounds: Dekadenz in Azurblau
> Dolce Vita auf dem Dancefloor. Wie die italienischen Clubsounds zwischen
> Adria und Mittelmeer klingen und warum sie gute Laune machen.
Bild: Italo-Opulenz trotz Corona: Szene aus dem Club „Villa delle Rose“ in …
In Italien ist Clubmusik schon seit der klassischen Ära von Disco in den
1970ern integraler Bestandteil von la dolce vita. Seit damals wird mit
offenen Armen empfangen, was von den nordamerikanischen Metropolen
herüberschwappt. In Italien wird der musikalische Input mit elastischem
Verhältnis zu Urheberrechten in etwas umgedeutet, das dem Lebensgefühl an
Adria und Mittelmeer eher entspricht.
Kopieren lohnt sich künstlerisch und vor allem kommerziell. Daran hat sich
bis heute kaum etwas geändert: Der lockere Umgang der Italiener mit
[1][Originalmateria]l ist kreativ und zugleich berüchtigt, unzählige
halbseidene Coverversionen und Bootlegs zeugen davon.
Man muss aber ebenso konstatieren, dass stets etwas Originäres dabei
entstanden ist. Italo-Disco-Musik der achtziger Jahre ist das
Kardinalbeispiel hierfür. Was zunächst in Resteuropa noch als billige
Plastikversion von Disco verschrien war und als Musik, zu der eher die
Jugendlichen aus einfachen Verhältnissen in der lokalen Diskothek den Disco
Fox tanzten, mutierte schnell zu einem internationalen Einfluss mit
erstaunlicher Langlebigkeit und Hipness-Faktor.
## Unbedarfter Charme und Innovationsfreude
Ein Grund dafür ist sicherlich der unbedarfte Charme der italienischen
Musik, ein anderer ist aber auch die Innovationsfreude ihrer
Produzent:innen. So verwundert es nicht, dass die Pioniertage von House
Music ab Mitte der 1980er in Chicago und Detroit gespickt waren mit
Importplatten aus Italien, die in den Playlists wichtiger US-Radiosender
und [2][den entsprechenden Clubs] tiefe Spuren hinterlassen haben. Es
gelangte quasi etwas in die USA zurück, das sich sehr von dem unterschied,
was man zuvor nach Europa exportiert hatte.
Und mit House entlässt man dann abermals eine gewichtige neue Komponente in
das Nachtleben der Alten Welt, und wieder wurde sie gerade in Italien
besonders schnell begeistert verarbeitet. Die Genese von Italo House ab
Ende der 1980er folgt dabei den bewährten Mustern der Jahre zuvor, was
nicht weiter verwunderlich ist, denn viele Protagonisten, wie etwa Ricky
Montanari und [3][Claudio Rispoli alias Moz-Art] waren als DJs und
Produzenten schon seit der Disco-Ära aktiv und gingen bei der Adaption von
House ähnlich zweckorientiert vor.
Äußerst hilfreich war, dass die italienische Musikindustrie über Jahre
Import- und Exportstrukturen aufgebaut hatte, mit der man in Sachen der
schnelllebigen Clubmusik stets vorneweg war. Der erste italienische
House-Track, der über die Landesgrenzen hinaus Tanzflächen eroberte, ist
„Ride on Time“ von Black Box.
## Dreist zusammengeklaubt
Seine Musik funktioniert vor allem so gut, weil sie dreist Bestandteile
zusammenklaubt, die sich schon vorher bestens bewährt haben. Man kopierte
die einprägsamen Pianoakkorde und synthetischen Grooves der frühen
US-House-Produktionen wie etwa von Marshall Jeffersons „Jungle Wonz“ und
stellte ein Model ans Mikrofon, welches in Videoclips und
Playbackauftritten zu der ungefragt übernommenen Originalstimme von
Loleatta Holloways Disco-Klassiker „Love Sensation“ (1980) mimt.
Wie man damit durchkommen kann, obwohl der Song zu einem beträchtlichen Hit
wurde? Ganz einfach, „Ride on Time“ klingt derart umwerfend, dass man erst
viel später Fragen wegen Plagiatsvorwürfen stellte.
Das Erfolgsrezept ist so simpel wie effizient. Instinktsicher werden die
nachhaltigen Elemente des Originals isoliert, die auf der Tanzfläche
Ekstase auslösen, produziert sie ekstatischer, aber auch gefälliger und
lässt ordentlich mediterrane Sonnenwärme rein. Dann werden etliche
Veröffentlichungen nachgeschoben, die mehr oder weniger nach dem gleichen
Muster funktionieren, und schon bald hat man ein eigenes Genre erschaffen,
dass sich bis heute ungebremst in zahllosen Variationen zwischen Eurodance,
UK Breakbeats und balearischen Großraum-Clubhits fortpflanzt.
## Außenpools mit Panoramablick
Italienische Clubmusik muss im großen Rahmen funktionieren, was durchaus
ein wichtiges Kriterium ist, denn italienische Clubs sind in der Regel
groß. Sehr groß. Sie zeugen von einer langen, stolzen Tradition der
Dekadenz und Maßlosigkeit, des ganz breiten Pinselstrichs inklusive
Stuck-Säulen auf der Tanzfläche, Außenpools mit Panoramablick und absurden
VIP-Bereichen. Man kann diese Etablissements vom Weltall aus erkennen, und
den Autokorso dorthin auch.
In solchen Clubs muss der DJ klotzen, und nicht kleckern. Nichts und
niemand darf das pompöse Gesamtbild mit kleinen Gesten und kleinen
Ansprüchen und kleiner Kunst verunreinigen. Nichts bleibt dem Zufall
überlassen. Die für Italo House maßgeblichen und größtenteils an der
italienischen Riviera ansässigen Clubs wie „Ethos Mama“, „Diabolik’a�…
Victis“, „Cocorico“ und „Peter Pan“ haben eine Kapazität im großzü…
bis vierstelligen Bereich: Podest-Tänzer:innen, MCs und DJs, die sich keine
Fehler erlauben können. Vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher,
dass der Sound in der Blütezeit von Italo House ab 1990 nicht so klingt,
als müsste er erheblichem kommerziellen Druck standhalten.
An Italo House kann man sicherlich die wichtigen Evolutionsstufen der
internationalen House Music ablesen, und die erste Zündstufe Ende der
1980er Jahre ist eine Sturm-und-Drang-Phase, in der bedingungslose Euphorie
und Pianos regierten. Der wirklich kreative Schwung setzt aber um 1990 ein,
als in den USA der House-Sound deeper wurde.
## Versonnene Musik
Die italienischen DJs und Produzenten mussten ein gehöriges
Erweckungserlebnis gehabt haben, als etwa Larry Heard und Marshall
Jefferson versonnenere Tracks produzierten oder etwas später in New York
auf dem wichtigen Label-Triumvirat Strictly Rhythm, Nu Groove und Nervous
Tracks von Wayne Gardiner, Gijo Rosario, Ronald & Rheji Burrell und Roger
Sanchez veröffentlicht wurden.
Diese Musik postuliert eine deutliche Abkehr von funktionalen
Tanzflächen-Imperativen. Italo House ist introspektiv, mit sanft
pulsierenden Grooves und vor allem mit bittersüß-emotionalen Flächen
ausgestattet und wird alsbald als Ambient und Mellow House in den Kanon
aufgenommen. Bereits 1989 schickten Angelo Albanese und Massimino Lippoli
den sich sehr großzügig bei Manuel Göttschings „E2-E4“ bedienenden Clubh…
„Sueño Latino“ auf den Weg.
Eine Blaupause für italienische House-Produktionen, mit denen sich jeder
Club in eine weltumarmende Utopie von Glückseligkeit mit Meerblick
verwandeln lässt und jeder urbane Alltagskampf inmitten weniger azurblauer
Umgebungen augenblicklich in Vergessenheit gerät. In den Studios arbeiten
nun beispielsweise Carlo Troya alias Don Carlos, Claudio Coccoluto und
Enrico Mantini an Musik, die sich anhört wie ein Sprung ins glitzernde
Wasser eines sonnendurchfluteten Swimmingpools.
## Es wartet der nächste Drink
Und wenn man am anderen Ende wieder auftaucht, sieht man schöne Menschen in
luftiger Bekleidung und schweißtreibenden Bewegungen, und da kommt auch
schon der nächste Drink. Die meisten Italo-Produzenten sind erfahrene DJs,
sie wissen genau, was sie selbst wollen, und vor allem, was ihr Publikum
will. Und dafür ist jedes Mittel recht.
Auf Labels wie Irma, Palmares, DFC, UMM und Calypso zelebrieren sie eine
hemmungslose Opulenz, die bis knapp vor die Kitschgrenze stößt, die Pianos
sind immer noch prominent im Mix, bloß etwas weicher gestimmt, gesampelte
oder eingesungene Stimmen vermitteln Botschaften von Liebe und
Zusammenhalt, die gleichermaßen wahrhaftig wie gelogen sind, und über allem
thronen die wärmsten und weichsten Flächen, in die man sich jemals hat
reinfallen lassen können.
Es gibt kaum Clubmusik, die mehr Eskapismus und Hedonismus ausstrahlt, mehr
Harmonie anbietet und mehr Glück verspricht als Italo House in den 1980er
und frühen 1990er Jahren. Aber die Realität hat noch längst jede Illusion
zur Strecke gebracht, und Italo House erging es nicht anders. Viele
Prachtclubs an der Adria wirkten irgendwann wie Relikte und mussten
schließen. Tänzer:innen brauchten andere Attraktionen, Clubkultur wollte
mit neuen Trends gefüttert werden, DJs und Produzenten wollten sich nicht
länger wiederholen.
Die Spuren sind dennoch nicht mehr zu tilgen, und es war nur eine Frage der
Zeit, bis die Revival-Zyklen wieder bei Italo House gelandet sind. Im
Internetzeitalter ist eine musikalische Stilrichtung schnell erschlossen
und über virtuelle Verkaufsportale verfügbar, und so treibt mittlerweile
eine junge Generation die Gebrauchtpreise der Originale in den Bereich des
Irrsinns, veröffentlicht aber auch Legendäres und Vergessenes neu. DJs,
Produzenten und Publikum verfallen wieder den bewährt verführerischen
Reizen dieser Musik.
Und es gibt auch wieder haufenweise aktuelle Produktionen, die den Faden da
aufnehmen, wo man ihn Mitte der 1990er Jahre hat fallen lassen, mit
frischen Ideen und modernen Mitteln. Etwa von den norwegischen Künstlern
Skatebård und DJ Fettburger und vom italienischen Produzenten Cosmic Garden
(Nicola Loporchio). Das Leben wird nicht einfacher, die Sorgen werden nicht
weniger, und dann kann man auch ruhigen Gewissens zu bewährten
House-Mitteln greifen.
2 Jul 2021
## LINKS
[1] /DJ-Super-Leiwand-ist-eine-Legende/!5511347
[2] /Disco-Kultur-in-New-York/!5379098
[3] https://www.youtube.com/watch?v=GJ8cPP-n9X4
## AUTOREN
Finn Johannsen
## TAGS
Italien
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