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# taz.de -- Hamburger Musikerin Rosaceae: Sich den Kampfpanzer aneignen
> Keuchen, Bimmeln und Knistern: Das Album „Efia“ der jungen Hamburger
> Ambient-Produzentin Rosaceae verstört und betört gleichermaßen.
Bild: Ambient mal nicht als Wohlfühlklangtapete: Rosaceae
Die US-Science-Fiction-Autorin [1][Ursula K. Le Guin] hat einmal
beschrieben, wie sie die Felder Technologie und Wissenschaft zur
„kulturellen Tragetasche“ umdefiniert hat, „vollgepackt mit Raumschiffen,
die Pannen haben, Missionen, die scheitern und Leuten, die nichts
verstehen“. Le Guin bewirkt dadurch, dass Technologie und Wissenschaft in
den Plots ihrer Romane nicht mehr nur Herrschaftsinstrumente sind.
Jenseits von apokalyptischen Settings hat Science-Fiction bei Le Guin
großen künstlerischen Freiraum, es wird zum „realistischen Genre“.
Etwas Ähnliches versucht die Hamburger Produzentin Rosaceae mit Ambient,
einem Elektronikstil, der seit seinem Auftauchen Mitte der 1970er immer
Gefahr lief, zur meditativen Klangwolke zu werden. Anstatt Geräusche der
Umwelt mitaufzunehmen, schottete sich [2][Ambient] immer weiter im
Wohlgefühl dagegen ab.
Die Musik von Rosaceae lebt dagegen maßgeblich vom Bezug zum Außen, das in
mächtigen Klängen in den acht Tracks ihres neuen Albums „Efia“ auftaucht:
Ob das Bremsenquietschen eines Leopard-2-Panzers, der charakteristische
Telekom-Klingelton, oder das Sample einer anonymen Stimme, die „Zugabe“
fordert, dieses Schaben und Keuchen, Bimmeln und Knistern macht der Musik
schwer zu schaffen.
## Geräusche aus der Alltagswelt
Wie die junge Hamburger Künstlerin die Geräusche aus der Alltagswelt
einsetzt, ist spannend. Weil sie die außermusikalischen Klangelemente durch
klug arrangierte und sorgfältig sequenzierte Tracks entlang der Melodien
und Loops nicht nur wie Marker einsetzt, sondern auch musikalisch gelten
lässt.
„Mein wichtigstes Instrument ist die Wahrnehmung“, erklärt Rosaceae der
taz, „alles andere macht einfach nur Klang, den nehme ich auf und forme
Melodien mit Computer und Klavier. Meine Wahrnehmung ist die Grundlage, das
Fundament. Mit den Tönen des Klaviers baue ich die Wände und mit den
Geräuschen einer Alufolie baue ich zum Beispiel das Dach. Den Computer
brauche ich, um den Beton zu mischen.“
Rosaceae möchte ihren bürgerlichen Namen nicht in der Zeitung lesen. Ihren
Künstlernamen Rosaceae bezieht sie vom lateinischen Begriff der Familie der
Rosengewächse. Rosaceae ist auch der Name einer chronischen Hauterkrankung.
[3][„Efia“ ist Rosaceaes] zweites Album, nach „Nadia’s Escape“ (2019)…
nun ist sie Teil der Familie des Hamburger Pudelclubs, auf dessen Label
„Efia“ veröffentlicht wird.
## Opfer des Syrienkriegs
Ausgangspunkt von Rosaceaes Überlegungen zu „Efia“ war ein Satz, den der
britische Theoretiker [4][Mark Fisher] sinnbildlich für einen
Übergangszustand nahm, den er „Hauntology“ nannte: „There is no time her…
not anymore.“ Von Derrida leitete Fisher das spukhafte Wesen des
Kapitalismus ab, nach dem Untergang des real existierenden Sozialismus 1989
spukten die Geister des Kommunismus weiter in der Geschichte herum. Ihnen
nachzutrauern, erschien Fisher vergeblich.
In Rosaceaes finalem Track „Çiya“ wiederholt eine Stimme „There is no ti…
here, not anymore“, sie wiederholt den Satz nicht nur, sie sagt auch, „soll
ich ihn wiederholen?“ In „Efia“ tauchen Geister als Opfer des Syrienkriegs
auf. Entstanden ursprünglich als Auftragsarbeit für das Festival
„Noisexistance“, hat Rosaceae die Erfahrungen einer traumatisierten
kurdischen Flüchtenden aus Syrien mit in die Klangkulisse gearbeitet.
In dem Track „Six Years Old Child“ wiederholt eine durch Effekte
unkenntlich gemachte brüchige Stimme Fragen wie „Tell me, who is my
murderer“, „How much death suits you“. Dazu ist das Pumpen eines Herzens …
hören, schwere Atmung und der Gesang bei einer kurdischen Hochzeit.
Impressionistische Pianocluster prallen auf schroffen Panzerlärm, auch wenn
es noch so knallt, es bleibt Musik.
## Waffen-Exportschlager
„Die Leopard-2-Panzer verkauft Deutschland an die Türkei und die bringt
damit KurdInnen um. Der Exportschlager ist dieses Jahr 40 Jahre alt
geworden. Da dachte ich mir, dass kann ich doch mal in meinem Album
erwähnen. Ich eigne mir etwas an, was sonst Menschen vernichtet.“
Die deutsche Stimme der Kurdin Efia wird von der Künstlerin Jesseline
Preach gesprochen: In „Çiya“ schildert sie zunächst einen Traum von Efia,
in dem ihr verschwundener Vater wieder lebendig wird. Gegen Ende des Albums
erzählt Preach von ihrer eigenen Großmutter. Rosaceaes Musik spart das Leid
nicht aus, sie ist voller Ängste und Zweifel, ihr Ambientsound
verunsichert.
1 Jul 2020
## LINKS
[1] /Musik-zu-einem-LeGuin-SciFi-Roman/!5519443
[2] /Ambient-Album-von-Wolfgang-Voigt/!5507961
[3] https://www.deejay.de/Rosaceae_Efia_PP32_Vinyl__953420
[4] /Grundlagenwerk-zur-Poptheorie/!5044540
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
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