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# taz.de -- Konzert von Jimi Tenor in Hamburg: Erleuchtung hinterm Bauzaun
> Der finnische Multiinstrumentalist Jimi Tenor spielte am Freitag live vor
> dem Hamburger Pudelclub. Dessen erste Veranstaltung seit Pandemiebeginn.
Bild: Jimi Tenor am Freitag beim Konzert vor dem Pudelclub
Wenn Kleider Leute machen, dann können sie auch den Ton eines Konzerts
setzen. Als Jimi Tenor in seinem afrikanischen Dashiki – strahlend türkis
und golden bestickt – am frühen Freitagabend durch den Vorgarten des
Hamburger Pudel Clubs schreitet, bekommt sein Auftritt schon vor der ersten
Note eine Richtung.
Erschienen ist: der Afrobeat-Jimi, der Space-Jazz Tenor, der
Fela-Kuti-Verehrer. Die Unterscheidung ist wichtig, weil es so viele andere
Versionen von Jimi Tenor gibt: den Deep-House Club-JT, den
Euro-Disco-Trash-JT, den Dub-Metal-Fusion-JT … All diese musikalischen
Inkarnationen des 56-jährigen finnischen Künstlers sind nicht scharf
getrennt, aber sie treten in unterschiedlichen Gewichtungen auf.
Welche an diesem frühen Freitagabend dominiert, klärt das erste Stück
unmissverständlich. Über plockernden Analogbeats erhebt sich bald Tenors
sublimes Querflötenspiel zu einer Spiritual-Jazz-Ode an die Wunder der
Natur. Ist das Pharoah Sanders mit Korg-Synthesizer? Klingt es wie
Stereolab in einer Jam Session mit Yusef Lateef? Nein, es ist der finnische
Sohn, heimgekehrt auf historischen Grund: Jimi Tenor, endlich wieder zu
Gast im Pudel am Hafen in St. Pauli.
## Lange gemeinsame Reise
Denn das hier ist kein weiteres schnödes Freiluftkonzert nach
Hygieneregeln, wie sie derzeit aus Grünanlagen sprießen. Es ist eine Etappe
auf einer langen gemeinsamen Reise. 1995 legte Tenor ein paar Hundert Meter
von der heutigen Bühne entfernt und gebucht vom gleichen Booker wie heute
Platten in einem Keller auf St. Pauli auf. Da hatte der Song „Take Me Baby“
Jimi Tenor schon zum Star der Technoszene katapultiert, zu dieser Musik
würden bald darauf während der Love Parade eine halbe Million Leute tanzen.
Trotzdem steht der Mann mit Warhol-Look im Jahr 2000 mit Querflöte und
kleiner Band [1][im winzigen Pudel]. Als Jazz-Alchimist schafft er es,
diesem Vollholz-Studienrat-Genre einen schwitzigen Clubsound zu verpassen.
Jimi Tenor und der Pudelclub haben ähnliche Karrieren durchlaufen. Beide
werden in den 1990ern erfolgreich, aber beide lassen sich davon nicht
sättigen, bleiben hungrig, offen, [2][abenteuerlustig]. Der Pudel erweitert
Programm und Angebot, Tenor erkundet obsessiv obskure Analogsynthies und
afrikanische Regionalszenen. Beide, der Künstler und der Club, sind auf der
Suche nach [3][neuen Fusionen], beide suchen Glamour im Trash, wollen
Herausforderung und Spaß. Das verbindet.
Im Januar hätte der studierte Saxofonist Tenor mit großer Band in der
Elbphilharmonie spielen sollen. Es hätte etwas wie das Sun Ra Arkestra
unter finnischer Leitung werden können. Das Virus kippte diesen Plan und
öffnete den Weg für etwas ganz anderes: Jimi Tenor alleine, unter dem
Pudel-Obergeschoss Zwölphi und hinter einem Bauzaun, nur mit Saxofon,
Querflöte und einem Tisch Elektronik. Streben nach Größe mit begrenzten
Mitteln, noch eine Pudel-Parallele. Nach einer halben Stunde steigert sich
das Fiepsen des Korg und Knuspern der Beats in eine Fiebrigkeit, die an die
hysterischsten Palais-Schaumburg-Momente reicht. Herrlich! Schnell senkt
das bass-erdige „My Mind“ den Blutdruck mit ein paar
Barry-White-Schmusemoves.
## Tribalistische Oldschool
„I run an oldschool show here“, bemerkt Tenor irgendwann. Es ist keine
Entschuldigung, sondern klingt sehr zufrieden. Erinnert er sich an seine
jungen Jahre als Alleinunterhalter auf Hochzeiten? Die ersten Tabletts mit
Kurzen werden jetzt durch die Sitzreihen des nicht mehr blutjungen
Publikums jongliert. Die Stimmung ist gut, ab und zu geht ein Paar Hände in
die Luft. Tanzt da wer? Sehr in Ordnung für 19 Uhr. Es wird nun
tribalistisch. Tenor salutiert seinem langjährigen Mitstreiter Tony Allen,
dem im vergangenen Jahr gestorbenen früheren Schlagzeuger Fela Kutis.
Dann stimmt er „Love is the only God“ an, ein mit der Berliner
Afrobeat-Band Kabu Kabu eingespieltes Stück, das Flöte und Gesang auf harte
Percussion bettet. Ein paar Übergänge sind verstolpert, aber Tenor regiert
die Hardware, changiert vom Saxofon zum Delay zur Orgel zur Flöte, dreht
zwischendurch an Reglern, schraubt an Bässen und singt wie ein
melancholischer Tundra-Hirte. Um kurz vor halb acht ist alles vorbei. Wie
früher im Pudel – nur zwölf Stunden eher. Schorsch Kamerun teilt mit, den
„besten Gig seit Jahren“ gesehen zu haben. [4][Pudel-Booker Ralf Köster]
gibt an, hier und heute den „Glauben an die Clubkultur“ zurückgewonnen zu
haben. Die Freude ist groß über solche Abende. Zu Recht.
15 Aug 2021
## LINKS
[1] /Streit-um-Golden-Pudel-Club/!5012364
[2] /Neues-Album-von-Sophia-Kennedy/!5770254
[3] /Das-Hamburger-Duo-Sufi-Dub-Brothers/!5716016
[4] /Hamburger-Musikerin-Rosaceae/!5693380
## AUTOREN
Gregor Kessler
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