# taz.de -- Siebtes Pop-Kultur Festival in Berlin: Von Masken und Mitmenschen | |
> Endlich wieder live dabei: Unter diesem inoffiziellen Motto stand das | |
> Pop-Kultur-Festival. In der Kulturbrauerei wurde getalkt und getanzt. | |
Bild: Nicht nur Gundermann: Alexander Scheer ist beim Pop-Kultur Festival als f… | |
Sie hat gefehlt in diesen letzten anderthalb Jahren: die Popkultur. Und hat | |
uns trotzdem gerettet. Ohne Musik wäre diese Pandemie wohl noch schwer zu | |
ertragen gewesen. Trotzdem hat sich unser Verhältnis zur Musik verändert – | |
vom Gemeinschaftserlebnis entwickelte sie sich zum individuellen | |
Seelentröster. | |
So gesehen war das Pop-Kultur-Festival, das seit letztem Mittwoch über vier | |
Abende in der Berliner Kulturbrauerei stattfand, auch eine Art Gradmesser, | |
wie es um den Austausch zwischen Publikum und Künstler*innen dieser Tage | |
steht – ob solche Gemeinschaftserlebnisse unter Pandemiebedingungen | |
überhaupt funktionieren können. Auf dem Gelände hängen überall Zettel mit | |
der Bitte, keine Gruppen zu bilden – sonst ja ein zentraler Grund, auf | |
Festivals zu gehen. | |
Es gilt die 3G-Regel, die Innenräume sind bestuhlt, einige Konzerte finden | |
mehrfach statt, um Publikumsströme zu entzerren. Viele in Deutschland | |
lebende Künstler*innen treten auf, ein großer Teil von ihnen aus Berlin, | |
damit etwaige Reisebeschränkungen die Planung nicht zerlegen. Und die | |
hiesige Musikszene, das bewies dieser Anlass aufs Neue, verblüfft durch | |
ihre Internationalität. | |
Die letztjährige Ausgabe der Pop-Kultur hatte komplett digital | |
stattgefunden, mit teils recht ambitionierten Arbeiten (die noch online | |
abrufbar sind), nun aber ging es endlich wieder live. Neben Konzerten gab | |
es auch in diesem Jahr Talks, Film-Screenings und alternative Konzepte, | |
sich zu begegnen: etwa im Studio 21, einer Art Festival im Festival, bei | |
dem es nicht nur darum ging, zu zeigen, wie vielseitig und innovativ die | |
inklusive Musikszene ist. | |
## Club ausschließlich von Menschen mit Behinderungen | |
Zudem fand in den Räumen des RambaZambaTheaters der erste ausschließlich | |
von Menschen mit Behinderungen organisierte Club der Stadt statt. Purer | |
Eskapismus war nie die Mission der Pop-Kultur, Pop gilt dem Kuratorenteam | |
immer auch als Seismograf gesellschaftlicher Veränderung und als | |
Versuchslabor. „I’m only Dancing – Scheer singt Bowie“ heißt die zieml… | |
gelungene Show, die man sich ebenso gut auf einer Theaterbühne vorstellen | |
könnte. | |
Bereits bei „Lazarus“, dem Bowie-Musical am Hamburger Schauspielhaus, hatte | |
Alexander Scheer die Hauptrolle gespielt. Auch hier und heute beeindruckt, | |
wie sich der Schauspieler (der gleichermaßen überzeugend den | |
[1][DDR-Liedermacher Gundermann spielte]), sich dem [2][Bowie der mittleren | |
1970er Jahre] bis ins Hüftzucken anverwandelt – und die Pose des Imitators | |
zugleich immer wieder bricht. | |
Neben reichlich Berlin-Pathos gibt es [3][Passagen aus Bowies | |
Lieblingsbüchern], aus denen Scheer immer wieder vorliest. Neben | |
Naheliegendem wie „Clockwork Orange“ oder auch [4][Alfred Döblins „Berlin | |
Alexanderplatz“] gibt es durchaus Obskures zu entdecken: etwa, dass Bowie | |
sich, nachdem er Anfang 1976 vor dem psychischen Meltdown aus Los Angeles | |
in Richtung Berlin flüchtete, sich auf der langen Schiffsfahrt mit Alberto | |
Denti di Pirajnos „A Grave for a Dolphin“ (1956) tröstete. | |
Zumindest die von Schweer vorgelesenen Passagen vermitteln den Eindruck, | |
dass der italienische Autor ostafrikanische Folklore in das Gewand eines | |
erotischen Romans packte. Scheer zeigt sich irritiert, in lauter | |
maskentragende Gesichter gucken zu müssen – und fragt mal an, ob das | |
wirklich sein muss. Offenbar weiß er nicht, dass die Security sofort zur | |
Stelle ist, wenn jemand die Maske für länger als die zehn Sekunden abnimmt, | |
die es dauert, einen Schluck vom Getränk zu nehmen. | |
## Bowies „Let’s Dance“ als Aufforderung | |
Es fühlt sich schon fast nach Grenzüberschreitung an, als die Band zum | |
Schluss „Let’s Dance“ spielt – und das Publikum die Aufforderung auch | |
umsetzt. | |
Wie ein Kommentar zur Maske fühlt sich auch der Auftritt von All Diese | |
Gewalt an, dem soghaft-introspektiven Soloprojekt von Max Rieger. Zusammen | |
mit seiner Projektband dreht Rieger, sonst [5][Sänger der Punkband Die | |
Nerven], den Spieß einfach um. Er versteckt nicht das Publikum, sondern die | |
Bühne hinter einer Art Mega-Maske. Die aufgespannte Milchfolie lässt die | |
Konturen der Musiker allenfalls schemenhaft erahnen. | |
Laut Programmheft steht bei dieser Inszenierung nicht die Vereinzelung im | |
Fokus, um die es auf Riegers jüngsten Album „Andere“ (2020) geht. Vielmehr | |
soll die Inszenierung – laut Ankündigung – „den Spielenden mehr Intimit�… | |
untereinander bieten, während sich den Zuschauer:innen ein | |
verschleierter Eindruck davon bietet, was passiert, wenn das Individuum im | |
Kollektiv und die Einsamkeit in Gemeinsamkeit aufgeht“. | |
Ach so. Na denn. Das Publikum scheint dafür eher Schulterzucken übrig zu | |
haben, auch wenn die Band einen tollen immersiven Sound produziert. Doch | |
Musik hinter Milchglas – davon hatte man eigentlich genug, bei all den | |
Streams im vergangenen Jahr. | |
## Auftragsarbeiten als Alleinstellungsmerkmal | |
Nicht jedes sogenannte Commissioned Work erweist sich als Highlight, | |
manches wirkt konzeptionell schlichtweg überfrachtet. Bei Commissioned | |
Works handelt es sich um eigens für den Anlass produzierte | |
Auftragsarbeiten, die sich über die Jahre zu einem Alleinstellungsmerkmal | |
des Festivals entwickelt haben. | |
Eine solche Auftragsarbeit – eine sehr gelungene – ist die Performance | |
„Hall of Mirrors“ von Tara Nome Doyle. Schon auf ihrem letztjährigen | |
Debütalbum „Alchemy“ beschäftigte sich die in Berlin-Kreuzberg | |
aufgewachsene, norwegisch-irische Songwriterin und Pianistin mit den | |
Konzepten des Psychiaters C. G. Jung. Auf der Pop-Kultur führt sie dessen | |
Ideen inmitten eines Spielkabinetts weiter. | |
Auf der Grundlage von Jungs Einteilung der menschlichen Persönlichkeit in | |
„Persona“ einerseits, also das, was Menschen nach außen hin darstellen, und | |
ihrem „Schatten“ andererseits, also den unbewussten | |
Persönlichkeitsanteilen, singt Doyle die eine Hälfte ihrer neuen, tollen | |
Songs mit der Kopf-, die andere mit der Bruststimme. Das Konzept durchwirkt | |
ihre Performance, wirkt aber keineswegs didaktisch, sondern angenehm | |
organisch. | |
Ab Freitag schwebt mehr Festivalenergie auf dem Gelände als die Tage zuvor, | |
fast schon fühlt man sich wie in präpandemischen Zeiten. Das Publikum | |
scheint sich ans trübe Wetter gewöhnt zu haben und ignoriert es einfach. | |
Vor einigen Venues bilden sich Schlangen – besonders Erotik Toy Records und | |
Serious Klein, beides HipHop-Acts, kreieren reichlich Buzz. | |
## Conny Frischauf, Liraz Charhi und Sophia Kennedy | |
Über Letzteren sagt der Nachbar in der Warteschlange zu seinem Begleiter: | |
„Wir müssen unbedingt da rein, das ist der deutsche Kendrick Lamar – hab | |
ich zumindest gelesen.“ Sogar in Talks kommt man nicht mehr rein: Wer hätte | |
gedacht, dass „Popularisierung der Politik – Politisierung des Pop“ ein | |
Thema für die Primetime am Samstag ist. | |
Man kann sich schön treiben lassen: Von den trockenen Krautrock-Grooves, | |
die Felix Kubin und Hubert Zemler als CEL auf die Bühne bringen, zu den | |
bemerkenswerten Kollaborationen, die die persische, in Israel aufgewachsen | |
Sängerin Liraz Charhi auf die Bühne bringt. | |
Und von der [6][sympathisch nerdigen Wienerin Conny Frischauf, die | |
eigenwillige Elektronik] mit nicht minder eigenwilligen und tollen Texten | |
kombiniert, zu [7][Sophia Kennedy, bei der Musicalelemente mit | |
Hiphop-Beats und großem Songwriting] zusammengehen. Bei ihrem | |
spätabendlichen Auftritt im Kinosaal wirkt Kennedy gelöster denn je. | |
Unerwartet beglückt stolpert man nach vier Tagen nach Hause. Es funzt also | |
noch mit der Pop-Kultur. Und mit den Mitmenschen war’s auch ganz schön. | |
29 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Stephanie Grimm | |
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