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# taz.de -- Kulturschmuggel in der Sowjetunion: „Tutti Frutti“ als geheime …
> Aus Röntgenaufnahmen machten sowjetische Raubkopierer in den
> Nachkriegsjahren Schallplatten. Sie sind jetzt zu sehen in der Berliner
> Villa Heike.
Bild: In der Garage in Moskau war „Bone Music“ schon zu sehen
Es sind fragile Objekte von geradezu gespenstisch anmutender, surrealer
Schönheit: Auf einem der kreisrunden Artefakte erkennt man einen
Rippenbogen, auf einer anderen etwas, das die Laiin eventuell für einen
Oberschenkelknochen halten würde. Auf einer dritten sieht es so aus, als
sei jemandem in den Kopf geschossen worden.
Doch das Loch in der Mitte der Scheibe, die das Röntgenbild eines
menschlichen Schädels zeigt, wurde nachträglich in das weiche Material
gestanzt. Eine Schallplatte braucht schließlich ein Loch.
Im Zeitalter von Spotify und Co., da Musik längst zu einem allzeit
verfügbaren Konsumgut geworden ist, können wir uns kaum noch vorstellen,
wie anders alles noch vor wenigen Jahrzehnten war. Zumal auf der östlich
des Eisernen Vorhangs gelegenen Hälfte der Kalten-Kriegs-Welt. Der Mangel
an allem und jedem, der nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in der
Sowjetunion herrschte, wurde im Falle kultureller Produkte durch die Zensur
noch maximal verschärft.
## Verbotene Musik hören
[1][Während der Stalinzeit] fielen sowohl als „westlich“ geltende
Musikstile unter den staatlichen Bann als auch zahlreiche sowjetische
KünstlerInnen, die politisch in Ungnade gefallen waren. Das Bedürfnis der
Menschen, auch die verbotene Musik zu hören, war jedoch nicht totzukriegen;
zu allen Zeiten florierte der Kultur-Schwarzmarkt.
Dessen für unsere heutigen Augen spektakulärsten Erzeugnisse stammen aus
der Zeit vor der Etablierung der Audiokassette als Massenprodukt. Denn in
Ermangelung anderen zugänglichen Materials, das sich zur Herstellung eines
Tonträgers geeignet hätte, griffen sowjetische Raubkopierer für die
Herstellung von Schallplatten zurück auf Röntgenbilder, die von den
sowjetischen Kliniken in großem Stil entsorgt wurden (auch wegen der
leichten Brennbarkeit des Materials wurden die Aufnahmen niemals länger als
ein Jahr aufbewahrt). Unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten war die
Nachkriegszeit das goldene Zeitalter des Recycling.
Die Ausstellung „Bone Music“, die derzeit in der Villa Heike in
Hohenschönhausen besucht werden kann, wurde kuratiert vom britischen
Musiker Stephen Coates, der während einer Konzerttournee in Russland auf
einem Markt eine solche Röntgenplatte erstand und, fasziniert von der
Geschichte hinter dem eigentümlichen Objekt, dem „Rentgenizdat“ – auch
einfach „Rippen“ oder „Musik auf Rippen“ genannt – nachzuforschen beg…
## Interviews mit Zeitzeugen
Über Jahre sammelte Coates zahlreiche historische Artefakte und führte
Interviews mit Zeitzeugen. Seine gesammelten Recherchen bündelte er in
einem Buch und [2][in eben der Ausstellung „Bone Music“], die bereits
mehrere internationale Stationen hinter sich hat.
Um eine Reihe von zentral präsentierten Knochen-Schallplatten herum
beleuchtet die Schau von mehreren Seiten den Kontext, in dem die illegalen
Tonträger entstanden. Ein liebevoll und detailreich ausgestatteter Raum ist
dabei, der die Werkstatt eines Raubkopierers darstellt. An mehreren
Videostationen sind Interviews mit Zeitzeugen zu erleben.
Ein alter Mann erinnert sich an seine Zeit als Raubkopierer und erzählt, er
habe das Rohmaterial einfach im Krankenhaus von einem dort arbeitenden
Techniker gekauft. Manchmal seien auch ganz neue Röntgenbilder dabei
gewesen. „Das waren die Besten“, weil das Material noch so schön weich
gewesen sei.
Ein anderer Zeitgenosse denkt zurück an seine klandestine musikalische
Erweckung als Schüler und seine Erlebnisse als Käufer illegaler
Röntgenplatten. Die „Rippen“ waren billig, im Gegensatz zu den
Originalplatten westlicher Musiker, die auf dem Schwarzmarkt zu
Fantasiepreisen verkauft wurden. Die auf Knochenbilder geritzte Musik aber
konnte sich auch ein Schüler von den Münzen fürs Pausenbrot leisten. Dann
habe er eben lieber nicht gefrühstückt, als auf seine Musik zu verzichten,
sagt der Mann. Nur zwei Rubel habe ihn sein erster Kauf gekostet, „Tutti
Frutti“ von Little Richard.
## Grüße per Schallplatte
Es war vermutlich ein polnischer Geschäftsmann, der die von einem Ungarn
erfundene Röntgenbildmethode 1946 als Erster in die Sowjetunion brachte. In
den vierziger Jahren war es in Ost wie West Mode – auch das zeigt die
Ausstellung –, Grüße zu besonderen Gelegenheiten nicht als geschriebene,
sondern als gesprochene Post in Form einer Schallplatte zu verschicken. Ein
Laden zur Erstellung solcher Audiobriefe sei wohl die erste
Produktionsstätte der Röntgenschallplatten gewesen, meint Stephen Coates.
Tagsüber habe der Inhaber sich seinen legalen und nach Geschäftsschluss den
illegalen Geschäften gewidmet.
Wer beim Verkauf oder Kauf einer illegal produzierten Platte erwischt
wurde, musste auf jeden Fall mit Gefängnis rechnen. Für die Herstellung der
Röntgenschallplatten waren spezielle Aufnahmegeräte erforderlich, die in
der Regel selbst gebaut werden mussten. Daher wurde das Geschäft mit diesen
sehr primitiven Tonträgern, deren Tonqualität eine Katastrophe gewesen sein
muss und die nur wenige Male abgespielt werden konnten, nie zu einem auch
nur annähernd so großen Massenphänomen, wie es der Schwarzhandel mit
Audiokassetten in der späten Sowjetunion darstellte. Spätestens seit der
zweiten Hälfte der sechziger Jahre ist die „Musik auf Rippen“ Geschichte.
17 Aug 2021
## LINKS
[1] /Nadeschda-Mandelstams-Erinnerungen/!5730864
[2] https://buero-doering.de/bone-music/
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Musik
Schattenwirtschaft
Zensur
Verbot
Geschichte
Sowjetunion
Musik
Lesestück Recherche und Reportage
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