# taz.de -- Interview mit der Slawistin Marlene Grau: „Die Kunst sitzt mitten… | |
> 25 Jahre lang hat die Slawistin Marlene Grau in der Hamburger | |
> Staatsbibliothek gearbeitet. Ein Gespräch über das Leben im Moskau der | |
> 1980er-Jahre, die Bespitzelung durch den KGB – und die wohltuende Wirkung | |
> des absurden Humors | |
Bild: Stört sich immer noch an der Ungerechtigkeit der Welt: Marlene Grau. | |
taz: Frau Grau, warum haben Sie sich in die russische Kultur verliebt? | |
Marlene Grau: Das lief über die Sprache. Sprachen waren schon in meiner | |
Kindheit sehr präsent; mein Großvater sprach zehn. Ich selbst habe als | |
Gymnasiastin angefangen, meine Tagebücher in griechischer Schrift zu | |
schreiben. Später habe ich Latein und Englisch gelernt, dann mit Russisch | |
angefangen: noch eine Schrift, toll! Fürs Studium habe ich mir eine leichte | |
und eine schwere Sprache ausgesucht – Englisch und Russisch, als | |
Sprachwissenschaftlerin. | |
Eine eher trockene Materie. | |
Finde ich nicht. Es interessiert mich maßlos, wie Sprache funktioniert. | |
Russisch zum Beispiel ist barock und nuancenreich, mit einem großen Fundus | |
aus Altrussisch und Altkirchenslawisch sowie Verbindungen zum | |
Altgriechischen und Lateinischen. Und es kennt keine Artikel. Dafür gibt es | |
ein ziemlich komplexes Verbsystem, die „Aspekte“. Solche Unterschiede sind | |
extrem interessant, weil Sprache immer auch einen Blick auf die Welt | |
spiegelt. | |
Und sie kann Politikum sein: wie bei Michail Soschtschenko, über den Sie | |
promoviert haben. | |
Ja. Dieser sowjetische Satiriker der 1920er-Jahre hatte – wie alle, die von | |
der herrschenden Meinung abwichen – Schwierigkeiten zu überleben. Ich habe | |
über die Zensur geschrieben, der seine Texte unterlagen. Habilitieren | |
wollte ich dann über die Sowjet-Sprache der 1930er-Jahre, als der große | |
Terror einsetzte. Es hat mich dann aber so deprimiert, wie die Sprache die | |
Menschen ins Passiv versetzte und entmenschlichte, dass ich abbrach. Ich | |
habe das nicht ausgehalten. | |
Ein Beispiel? | |
Damals beherrschte eine trockene Kanzleisprache das öffentliche Leben. Vor | |
allem in den Zeitungen waren die Sätze im Passiv formuliert: „Vom Obersten | |
Sowjet wird angeordnet, dass dies und jenes getan wird.“ Das Subjekt, der | |
Mensch als handelndes Wesen verschwindet. | |
Wie bei Daniil Charms, dem die aktuelle Ausstellung in Ihrer Bibliothek | |
gilt. | |
Ja, in seinen Geschichten löst sich der Mensch in Nichts auf; Charms hat in | |
den 1920er-Jahren die spätere Entwicklung vorweggenommen. Seine Werke | |
wurden – bis auf die Kinderliteratur – nicht gedruckt. Er wurde verbannt, | |
kam später ins Gefängnis und starb 1942 während der Hungerblockade | |
Leningrads durch die deutsche Wehrmacht in einer Gefängnispsychiatrie. | |
Was schätzen Sie an Charms? | |
Er war sehr interessiert an Sprache, Klang, Rhythmus und hatte einen | |
absurden Humor, wenn er über den Alltag schrieb. Das liegt mir, denn ich | |
komme ja auch ein bisschen vom Clown. | |
Sie kommen „vom Clown“? | |
Ja. Als mein Leben eine Zeit lang etwas schwerer war, habe ich eine | |
Clowns-Ausbildung absolviert. Mein Sohn wurde 1994 mit gesundheitlichen | |
Problemen geboren. Dann trennte ich mich von meinem Mann, arbeitete | |
parallel weiter, und alles war relativ schwierig. Heute ist mein Sohn | |
gesund, aber damals hatte ich nicht so viel zu lachen Dann nahm mich jemand | |
zu einem Clowns-Workshop mit. Das tat mir so gut, dass ich drei Jahre lang | |
die Hamburger Clownsschule besuchte. Ich erinnere mich, dass ich in den | |
ersten drei Monaten bei jedem Treffen durchgelacht habe. Weil ich plötzlich | |
das Absurde erkannte, statt zu denken: Oje, jetzt bekommst du noch einen | |
auf den Deckel! | |
Wo ist Ihr innerer Clown heute? | |
Wenn Sitzungen langweilig sind, schalte ich um und gucke, wie die Leute | |
sich verhalten: wie ihre Beine stehen, wie ihre Arme liegen … Dieses | |
Beobachten finde ich auch bei Charms. Der guckt sich an: Jemand geht des | |
Wegs, stolpert, fällt um, vielleicht ist er auch tot … Er wirft einen Blick | |
darauf, ist sehr schnell, sehr kurz. Bei ihm sitzt die Kunst mitten im | |
Leben. | |
Wann sind Sie ins reale russische Leben eingetaucht? | |
In den frühen 1980er-Jahren, als ich dort ein Studienjahr verbrachte. Es | |
war eine sehr intensive Zeit. Ich hatte dort Freunde, die meinetwegen | |
verfolgt wurden … | |
Wie kam das? | |
Ich war damals links, irgendwie kommunistisch – aber ich war nicht in der | |
Partei. Bevor ich – mit sechs weiteren Stipendiaten – nach Moskau fuhr, | |
hatte uns der Deutsche Akademische Austauschdienst gewarnt: „Es gibt dort | |
den KGB, der euch eventuell verfolgt.“ Wir dachten: „Uns doch nicht! Wir | |
sind doch auch links!“ Und dann passierte es doch. Ich teilte mir ein | |
Doppelzimmer mit einer Russin und erzählte ganz naiv: „Stell dir vor, ich | |
habe Russen kennengelernt, und die besuche ich jetzt.“ Sie hat das | |
weitergegeben. | |
Und wer wurde verfolgt? | |
Sascha, der in Atomphysik promovierte. Er hatte unterschreiben müssen, dass | |
er keinen Kontakt zu Westlern pflegen würde. Dann lernte er mich kennen und | |
nahm mich mit nach Hause zu Frau und Tochter. Eines Tages merkten wir, dass | |
vor ihrem Haus Fußstapfen waren und der Hund gebellt hatte … | |
War das alles? | |
Nein. Eines Nachts fuhren Sascha und ich mit dem Zug auf die Datscha, als | |
die Polizei den Wagen durchsuchte und unsere Pässe verlangte. Sie | |
bemerkten, dass ich als Westlerin den vorgeschriebenen 50-Kilometer-Radius | |
überschritten hatte, schwiegen aber. Kurz darauf wurde Sascha zum KGB | |
gerufen – und aufgefordert, mich entweder nicht mehr zu treffen oder | |
auszuspionieren. Nachdem er beides abgelehnt hatte, wurde er von der | |
Universität geworfen, kurz vor Ende seiner Promotion. | |
Wovon lebte er danach? | |
Wer so etwas in der Sowjetunion in seiner Akte stehen hatte, bekam nie | |
wieder einen qualifizierten Job. Er hat sich durchgeschlagen, hat Türen | |
abgedichtet, Privatunterricht gegeben, später an einer Schule Mathematik | |
unterrichtet. | |
Hatten Sie Schuldgefühle? | |
Ich kam mir vor wie eine Aussätzige und hatte das Gefühl: Ich bin eine | |
wandelnde Gefahr für die Menschen hier. | |
Waren Sie nach alldem bei der Rückkehr aus Moskau immer noch links? | |
Nicht in dem Sinne, das ich noch das System gut fand. Aber grundsätzlich | |
finde ich die Welt mit ihrem Wohlstandsgefälle immer noch ungerecht. Ein | |
kommunistisches Regime, das das Individuum verleugnet und alles der Masse | |
opfert, ist aber keine Lösung. Auch das Geheuchel fand ich abstoßend. Da | |
stand an abblätternden Fassaden: „Die Sowjetmacht hat das Land in ein | |
blühendes Paradies verwandelt“ – und die Leute standen an für Brot! | |
Waren Sie später auch als Bibliothekarin politisch aktiv? | |
Nicht im engeren Sinne. Die Ausstellung „Homosexuellenverfolgung in | |
Hamburg“ 2007 hat allerdings einiges bewegt. Die Schau wurde mir von einer | |
Gruppe angeboten, die es erfolglos in anderen Hamburger Museen versucht | |
hatte. Ich fand das Thema wichtig und zeigte sie. Und alle schwulen | |
Menschen und alle Abgeordneten in Hamburg kamen! Es war unsere | |
erfolgreichste Ausstellung. Später wurde sie im Rathaus gezeigt. Das war | |
nur möglich, weil wir als „seriöse“ Institution der Schau unser Siegel | |
gegeben hatten. Darauf bin ich stolz. | |
Apropos Öffnen: Wie verändern die Neuen Medien den Bibliotheksalltag? | |
Für die wissenschaftliche Arbeit ist die Verfügbarkeit von Information in | |
elektronischer Form sensationell. Über unsere Kataloge kann man zum | |
Beispiel auf Millionen von Zeitschriftenaufsätzen zugreifen. Einen Teil | |
davon kann nur die universitäre Öffentlichkeit einsehen, weil die Lizenzen | |
nur campusweit gelten. In dem Fall kann aber die Stadtbevölkerung die Texte | |
an unseren Computern vor Ort lesen. | |
Warum ist die Universität so privilegiert? | |
Wir sind die Universitätsbibliothek – fast zwei Drittel unserer Leser sind | |
Studierende und Lehrende, für die wir die wissenschaftliche Literatur | |
anschaffen. Aber unsere Mittel sind begrenzt. Derzeit fließt über die | |
Hälfte unseres Erwerbungsetats in elektronische Medien. Das ist so gewollt. | |
Aber die großen Wissenschaftsverlage knebeln uns und werden immer teurer. | |
Die Preissteigerungen bei elektronischen Medien sind wesentlich höher als | |
bei Printmedien. | |
Und nebenbei stirbt das Buch. | |
Nein. In Deutschland werden jedes Jahr mehr Bücher gedruckt als im Vorjahr. | |
Der Buchmarkt ist allerdings kurzatmiger geworden; die Bücher landen | |
schneller bei Billig-Anbietern. | |
Und was bedeutet Ihnen persönlich das Buch? | |
Für mich ist das ein haptischer Genuss. Es macht einen Unterschied, ob ich | |
im E-Book den puren Text lese oder ob ich mir einen Text im Wortsinn | |
aneignen, ihn be-greifen will. Ich glaube, dass auch das Lernen viel über | |
die Sinne funktioniert – und über die körperliche Gestalt eines Buchs. | |
Arbeiten Sie selbst mit Papier? | |
Ja, und als Ruheständlerin werde ich ab 1. Dezember endlich Zeit haben, | |
künstlerisch zu arbeiten. Ich mochte Papierarbeiten schon immer; ich bastle | |
Origami, baue Modelle, male, beschrifte, schneide. Wenn ich zum Beispiel | |
diesen Zettel zu einem Viereck schneide, kann ich einen schönen Lotos | |
daraus falten und als Tischkarte auf Ihren Teller legen. Wenn dieses | |
flache, bescheidene Stück Papier plötzlich dreidimenisonal wird, finde ich | |
das sehr beglückend! | |
Sonst noch Pläne für die Rente? | |
Ich werde wie eine Verrückte Griechisch lernen. Griechisch enthält ja unser | |
ganzes westliches Denken und ist die tollste Sprache von allen! | |
26 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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