# taz.de -- Regisseurin über russischen Autor Charms: „Wie Nawalny, nur 100 … | |
> Daniil Charms konnte komisch schreiben und wurde im Stalinismus | |
> wiederholt inhaftiert. Erla Prollius hat aus seinem Leben ein | |
> Theaterstück gemacht. | |
Bild: Eher kein verlässlicher Genosse: Daniil Charms 1931, vermutlich auf eine… | |
taz: Erla Prollius, nehmen wir an, jemand hat noch nie von ihm gehört: | |
Warum [1][Daniil Charms]? Und warum gerade jetzt? | |
Erla Prollius: Ja, ich hatte von ihm vorher auch gar nichts gehört, als ein | |
Freund von mir, der Slawist ist, mich auf Charms aufmerksam gemacht hat: Ob | |
mir nicht aufgefallen sei, jetzt gerade die Nawalny-Geschichte, und genau | |
das sei Charms doch auch widerfahren, 100 Jahre früher … | |
… Charms, geboren 1905, war im Stalinismus wiederholt inhaftiert und starb | |
Anfang 1942, während der Blockade Leningrads durch die Deutschen, in der | |
psychiatrischen Abteilung eines Gefängnisses. Der [2][russische] | |
Regimekritiker [3][Alexei Nawalny] wiederum starb jüngst, im Februar, auch | |
in Haft und unter dubiosen Umständen. | |
Diese Parallele hat mich wachgerüttelt, ich habe mir dann Material zu | |
Charms kommen lassen, seine Werke erworben und mit einer guten Bekannten, | |
Saskia Junggeburth, eine Dramaturgin gefunden, mit der ich auch schon oft | |
zusammen gearbeitet habe. Charms hat enorm viel geschrieben, unter anderem | |
zauberhafte Kindergeschichten. Theaterstücke. Hinreißend gezeichnet hat er | |
auch, hatte dabei etwas fast Kindliches, was ja eine große Qualität haben | |
kann bei einem intelligenten Mann. Oh, einen enormen Verschleiß an Frauen | |
hatte er wohl auch. | |
Wie kam nun der Abend zustande? | |
Mit der Dramaturgin zusammen haben wir die ganzen Materialien zu einem | |
Stück zusammengebaut, die Hauptarbeit hat sie gehabt. Es war eine richtige | |
Fleißarbeit, aber so wurde Charms jeden Tag ein wenig lebendiger für uns. | |
Es gibt ja ein Tagebuch, auch sein Ende ist darin geschildert, nicht von | |
ihm selbst, sondern von seiner Frau: Die schildert seine letzten Stunden. | |
Mit meinen vier Schauspielern haben wir an den Texten entlang gearbeitet, | |
auch improvisiert. Aus dieser einen Berichterstatterin habe ich dann eine | |
Frau gemacht: Das war die, die Charms ständig verhaften ließ und auch | |
untersuchen durch Mediziner. Übelste Machenschaften also, aber heute eben | |
wieder schrecklich vertraut. | |
Wie ist das Ganze strukturiert? | |
Wir haben eine Erzählerin, im Grunde die Ehefrau, die auch seine Untreue | |
ertragen musste und damit sehr tolerant umgegangen ist. Charms lasse ich | |
von zwei männlichen Schauspielern spielen: Das ist einmal der | |
introvertierte Charms und einmal der extrovertierte. Den einen, der stolz | |
auf seine Ehe ist, auf seine Vielweiberei aber auch; der andere ist ein | |
ganz Stiller, der auch mal im Schrank spielt: Wenn er schreibt, sitzt er da | |
sehr beengt und tippt seine Texte in die Maschine. Überhaupt: In dem | |
Schrank spielen die Hauptszenen, das drängt sich bei Charms geradezu auf. | |
Der Bühnenbildner musste gar nicht lange nachdenken, den Hinweis hat der | |
Autor selbst gegeben. Das hat natürlich einen eigenen Zauber: Es gibt einen | |
Text über die Moskauer Straßenbahn, ein irrsinnig schöner Text, da drängen | |
sich nun alle Schauspieler in den Schrank und spielen Straßenbahnfahrt mit | |
Hindernissen. Das ist sehr publikumswirksam, aber es war echte | |
Feinstarbeit, bis wir das hatten. Komik funktioniert ja nur über Präzision. | |
Es hat Riesenfreude gemacht, das zusammenzubauen und das zum Leben zu | |
erwecken. | |
Haben sie einen Lieblingstext von Charms? Und ist der auch untergekommen in | |
dem Stück? | |
Ach, ich habe so viele … die erwähnte Straßenbahnszene. Oder [4][„Die | |
vierbeinige Krähe“]: „Es war einmal eine Krähe, die hatte vier Beine. Sie | |
hatte eigentlich sogar fünf Beine, aber darüber lohnt nicht zu reden (…)“ | |
Ich sprach mal mit Alexander Nitzberg, der als Übersetzer viel getan hat | |
für Charms’ Bekanntheit in Deutschland. Der erzählte, es gebe im Russischen | |
richtiggehend ein geflügeltes Wort, also, wenn einem etwas Absurdes | |
widerfährt, auch wenn Dinge nebeneinander stehen, vollkommen unkoordiniert, | |
sagt man offenbar so etwas wie: „Das ist ja der reine Charms“, ein wenig | |
wie es auch Kafka geschafft hat … | |
Also, wir haben zu ihm auf jeden Fall einen sehr schönen, lustigen Abend | |
hinbekommen, der aber auch zum Nachdenken ist. Bei Charms ist es nie ein | |
weiter Weg von ausgesprochen Komischem zu etwas ganz anderem, sehr Ernsten, | |
Abgründigen. | |
3 May 2024 | |
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[4] https://www.umsu.de/charms/texte/CHARMSB.HTM#txt13-7 | |
## AUTOREN | |
Alexander Diehl | |
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