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# taz.de -- Stay home und höre Schallplatten: Festhalten
> Der Lockdown hat dem Vinylboom nicht geschadet, im Gegenteil: Bei dem
> kleinen Berliner Schallplattenpresswerk Intakt brummt das Geschäft.
Berlin taz | Das einzig Positive an Corona, so hört man immer wieder, sei
die Entschleunigung des Alltags, die die Pandemie mit sich bringe. Man
finde wieder Zeit für so altmodische Dinge wie Brettspiele und Bücher. Und
manche auch: zum Hören von Schallplatten.
Platte auflegen, Nadel auf das Vinyl setzen, nach 20 Minuten die Seiten
wechseln – all das kommt einem gerade nicht umständlich vor, sondern
einfach nur passend zum zähen Lockdown-Alltag, in dem man oft nicht weiß,
mit was man sonst noch so die Zeit totschlagen könnte.
Und tatsächlich brummt das Geschäft mit der Vinylschallplatte gerade
besonders. Über das generelle Comeback des Vinyls muss man ja eigentlich
nicht mehr viele Worte verlieren, das Phänomen ist schon oft genug
durchleuchtet worden. Die CD ist ein Auslaufmodell, Streaming ist König,
und wer Musik doch noch in Form eines physischen Artefakts besitzen möchte,
der entscheidet sich seit nunmehr gut einer Dekade wieder zunehmend für die
Vinylschallplatte. Weil man nur bei dieser wirklich etwas in der Hand hält
für sein Geld. Weil die Cover nur im Großformat etwas hermachen. Und weil
sie, da sind sich die Schallplatten-Fans sicher, einfach besser klingt als
alle Digital-Formate.
## Gearbeitet wird in zwei Schichten
Und da auch während Corona fleißig Musik produziert wurde und wird, die
veröffentlicht werden will, und das auch noch möglichst auf Vinyl, läuft es
bei dem kleinen [1][Berliner Schallplattenpresswerk Intakt,] dem einzigen
in der Stadt, bombig. In einer kleinen Industriehalle in Marienfelde im
Süden Tempelhofs stapeln sich die Kartons in Regalen und auf dem Boden.
Mitarbeiter packen Platten ein für den Versand. Und einer legt einen
Vinylkuchen nach dem anderen auf die beiden Pressen, die zu Schallplatten
zusammengedrückt werden.
Vor dreieinhalb Jahren, als Alex Terboven und Max Gössler, die beiden
Betreiber von Intakt, ihren Betrieb aufnahmen, machten sie noch alles zu
zweit und wechselten sich in Schichten ab an den Pressen. Inzwischen hat
die Firma neun Mitarbeiter, und es wird in zwei Tagesschichten gearbeitet.
„Um die 1.000 bis 1.500 Schallplatten entstehen bei uns am Tag“, so
Gössler.
Als die beiden Unternehmer damals die Idee hatten, ein
Schallplattenpresswerk zu eröffnen, mussten sie davon erst noch ihre Bank
wegen eines Kredits überzeugen. Schallplatten? Damit kann man noch Geld
verdienen!? Es war aber auch tatsächlich nicht hundertprozentig sicher,
dass das Vinylrevival mehr sein würde als nur ein kurz aufflackerndes
Strohfeuer.
„Noch immer lese ich mir ständig Fachartikel zum Thema Vinyl durch“, sagt
Max Gössler, als könne er dem Erfolg der eigenen Geschäftsidee nicht so
richtig über den Weg trauen. Er fragt sich immer noch: Wird das Vinylwunder
nicht vielleicht doch irgendwann wieder verschwinden? Dabei steigt der
Anteil der Schallplatte am Gesamtumsatz mit Musik [2][weiter kontinuierlich
in der Nische]. 2018 gab es einen kleinen Einbruch, 2019 ging es wieder
aufwärts. Deutet man den Trubel bei Intakt richtig, dürfte auch 2020 ein
gutes Jahr für Vinyl gewesen sein. Und demnächst möchte sich die Berliner
Firma sogar noch eine weitere Presse zulegen.
Damals, als es losging mit Intakt, hatte der rasant zunehmende Vinylboom,
mit dem so dann doch niemand gerechnet hatte, dazu geführt, dass die
Schallplattenpresswerke einfach hoffnungslos überlastet waren. Es gab ja
auch kaum noch welche, nur mehr ein halbes Dutzend etwa in Deutschland. Vor
allem kleinere Künstler kamen da nur schwer zum Zug. Große Firmen wie
Optimal, das größte Schallplattenpresswerk Deutschlands mit Sitz in Röbel
an der Müritz, einer Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern, würden die
großen Labels und deren Künstler bevorzugen, hieß es damals. Deren Aufträge
seien eben größer und lukrativer. Es gab regelrecht einen Kampf um die
Schallplatten-Presswerke. Deswegen wurde Intakt gegründet. Als Option für
die Kleinen. Bevorzugt für DJs und Produzenten elektronischer Musik – die
beiden Mittdreißiger Gössler und Terboven kommen selbst aus dieser Szene.
## Aufträge aus den USA
Standardaufträge seien bis heute bei ihnen Stückzahlen zwischen 300 und 500
Stück, so Gössler. Zahlen muss man dann pro Scheibe etwa 4 Euro, da ist
dann aber auch das Cover für die Platte mit dabei. Kleine Aufträge, die den
großen Firmen zu popelig wären, seien Intakt gerade recht, auf diese habe
man sich spezialisiert.
Prinzipiell habe sich an der Marktsituation aus ihrer Gründungszeit nichts
geändert, so Gössler. Die Lage habe sich nur noch weiter zugespitzt, das
Gedrängel an den Presswerken sogar zugenommen. Der Hauptgrund, den er dafür
nennt, klingt recht skurril: Und zwar ist im Frühjahr letzten Jahres eine
kleine Firma in Kalifornien abgebrannt. Eine der letzten, die noch
Lackfolien herstellte, die beim gängigsten Verfahren für das Pressen von
Schallplatten benötigt werden. Mit dem Aus der Firma blieb nur noch ein
einziger Hersteller von Lackfolien weltweit übrig, eine Firma in Japan, die
bislang hauptsächlich nach Europa lieferte. Ob die Amerikaner je wieder in
das Geschäft einsteigen werden, sei sehr fraglich, so Gössler.
Nun, so führt er fort, würden auch amerikanische Plattenfirmen der
Einfachheit halber die Produktion ihres Vinyls verstärkt nach Europa
verlegen. Und dort die Presswerke zusätzlich verstopfen. Gut für Intakt.
Die großen Firmen in Europa würden noch mehr darauf achten, möglichst nur
die wirklich lukrativen Aufträge anzunehmen, für den Rest fehlten einfach
die Kapazitäten. Und so komme es nun häufiger vor, dass auch bei ihm und
seiner Mini-Klitsche angefragt werde, wie schnell er auch mal 5.000 Stück
von einer Schallplatte pressen könne, weil man mit dem Auftrag bei einer
großen Firma einfach nicht landen konnte.
Dabei habe es vor einem halben Jahr noch nicht so ausgesehen, als würde das
Coronajahr 2020 für Intakt geschäftlich so gut enden, sagt Gössler. Als im
März vergangenen Jahres der erste Lockdown kam, musste auch Intakt erst
einmal gehörig herunterfahren. „Wirtschaftskrise, Panik und die Frage,
warum man denn jetzt eine Platte herausbringen solle“, habe seine
potentielle Kundschaft bewegt. Vor allem DJs und Elektronikproduzenten
hielten sich deutlich zurück: Für wen sollten sie jetzt Tanzmusik
herausbringen, die eh niemand in den Clubs auflegen kann?
Inzwischen aber würden die Produktionen, die lange zurückgehalten wurden,
eben doch unter die Leute gebracht. Und diejenigen, die sowieso für jetzt
geplant waren, noch obendrauf. Es würden seitens der Produzenten von
elektronischer Musik vermehrt Alben produziert, nicht nur Maxis als
Clubtools, so Gössler. Viel Ambient sei darunter, Sphärisches statt
Four-to-the-Floor, Lockdown-Soundtracks sozusagen. Corona beeinflusst ganz
offensichtlich auch Form und Inhalt von Musik.
Und dass nun so viele Platten nicht nur produziert, sondern auch gekauft
würden, liege letztlich ebenfalls an Corona. „Ich habe den Eindruck, es
geht um Solidarität“, sagt Gössler: „Die Einnahmen durch Live-Auftritte
brechen bei den Musikern weg, zu deren Unterstützung werden dann eben
Platten gekauft.“ Die Schallplatte wird zum Symbol der Verbundenheit, noch
etwas, das ein schnöder Stream wohl niemals sein kann.
Die Schallplatte ist sowieso ein Produkt, das sich ganz besonders zur
emotionalen Aufladung eignet. Das ist spätestens seit Nick Hornbys Roman
„High Fidelity“ bekannt, wo der Held der Geschichte je nach Lebenskrise
seine Plattensammlung neu sortiert. Man möchte gar nicht wissen, wie viele
Vinylenthusiasten es während Corona der Hornby-Figur nachgemacht haben. Die
Schallplatte löst einfach etwas aus bei den Leuten, und das in vielfältiger
Weise.
„Da sitzt man als Künstler monate- oder jahrelang an der Produktion seiner
Musik und dann will man am Ende schlichtweg mehr in der Hand haben als nur
ein File auf dem Computer“, glaubt Gössler. Kunden von ihm, die es kaum
noch erwarten können, kämen auch schon mal vorbei, hielten die frisch
gepresste Platte in die Höhe und riefen: „Geil! Hier ist das Ding.“
Und Schallplatten sollen zunehmend nicht nur schwarz sein, sondern bunt.
Das sei allerdings ein Trend, den es schon vor Corona gab, so Gössler. Es
komme immer öfter vor, dass ein Teil der Auflage als buntes Vinyl
herausgebracht werde, meist streng limitiert, als Sammlerstücke und
Hingucker. Sogenanntes Splatter-Vinyl, wo verschiedene Farben wild
zusammenfließen, sei gerade besonders angesagt. „Die Platten sollen
möglichst krass sein“, so Gössler, „unbedingt so, wie eine nackte Datei
niemals aussehen kann.“ Stolz werden sie dann in den sozialen Netzwerken
präsentiert. Nicht, wie üblich, als „schwarzes Gold“, sondern als Vinyl
gewordene Farbexplosionen.
Auch analoge Schallplatten finden so ihren Platz in der digitalen Welt. Sie
sollen gerne auch instagramable sein. Und damit, im Netz präsentiert,
möglichst so gut aussehen, wie sie auf dem Schallplattenspieler klingen.
16 Jan 2021
## LINKS
[1] /Vinyl-boomt-wieder/!5426876
[2] /Nachfrage-nach-Vinyl-Schallplatten/!5709652
## AUTOREN
Andreas Hartmann
## TAGS
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