# taz.de -- taz-berlin-Serie Analoge Helden: Bewahrer der Filmgeschichte | |
> Mit oder ohne Corona: In Zeiten von Streamingdiensten ist es schwer | |
> geworden für Videotheken. Auch für das Videodrom sieht es mal wieder | |
> düster aus. | |
Bild: Karsten Rodemann alias Graf Haufen, der Inhaber des Videodrom im Bergmann… | |
BERLIN taz | „Bitte im Laden Maske tragen“, wird auf einem Aushang am | |
Eingang zur Kreuzberger Programmvideothek Videodrom höflich gefordert. Dazu | |
ein Bild von Hannibal Lecter, dem berühmten Psychopathen und Meisterdenker, | |
bekannt vor allem aus dem Film „Das Schweigen der Lämmer“. Lecter trug | |
schon weit vor Corona eine Maske, allerdings nicht, damit andere vor seinen | |
Aerosolen, sondern vor seinem kräftigen Zubiss geschützt wurden, der | |
Serienmörder neigte zum Kannibalismus. Filmfreaks dürfte diese Art von | |
Humor gefallen. | |
Und für ebensolche ist das Videodrom, die älteste und größte | |
Programmvideothek Deutschlands, immer noch ein wichtiger Ort. Auch während | |
der Pandemie: Trotz diverser Lockdowns in den unterschiedlichsten | |
Härtegraden darf der DVD-Verleih geöffnet bleiben, auch wenn sonst so gut | |
wie alle Läden in Berlin geschlossen sein müssen. | |
Dabei hätte man ihn behördlich ruhig mit der Gleichstellung mit | |
Buchhandlungen adeln können, die als „geistige Tankstellen“ gleichfalls | |
weiterhin offen bleiben dürfen. Denn anregend für den Geist ist zumindest | |
ein großer Teil des Angebots im Videodrom. | |
Die große Frage, die sich zuerst stellt: Rennen die Leute während der | |
Pandemie dem Videodrom die Bude ein, weil sie unbedingt Stoff für ihr | |
Heimkino brauchen – das einzige Kino, das noch offen hat? Oder vergessen | |
sie jetzt, wo einen Netflix mit seiner Corona-Offensive geradezu flutet mit | |
neuen Filmen und Serien, endgültig, dass es da noch diese Videothek gibt, | |
für deren Besuch man allerdings das Haus verlassen müsste? | |
Karsten Rodemann, besser bekannt als Graf Haufen und seit ungefähr 30 | |
Jahren Inhaber der 1984 gegründeten Videothek, zieht ein eher nüchternes | |
Fazit. Er steht hinter dem Tresen seines Ladens, auch im tiefsten Winter im | |
Hawaii-Hemd, seinem Markenzeichen, und sagt, dass es lange Zeit weder einen | |
positiven noch einen negativen Corona-Effekt gegeben habe, inzwischen die | |
Pandemie jedoch zunehmend Probleme bereite. „Kurz vor dem ersten Lockdown | |
Ende März vergangenen Jahres kamen die Leute zu uns und haben sich wie | |
panisch mit Filmen eingedeckt, weil sie nicht wussten, wie es weitergeht, | |
ob wir aufbleiben dürfen oder zumachen müssen. Wie in alten Zeiten sind sie | |
mit fünf bis 15 Filmen wieder rausgegangen.“ Gleichzeitig seien aber viele | |
Stammkunden weggeblieben. Unter jenen sei der Altersdurchschnitt ziemlich | |
hoch, „viele gehören zur Risikogruppe 60 plus“. | |
Dann kamen Frühling und Sommer – generell schlechte Zeiten für Videotheken, | |
für die es sowieso kaum noch gute Zeiten gibt –, und wo es nach dem | |
Lockdown erst recht alle raus aus der Bude drängte. „Bierchen im Park | |
trinken, ins Open-Air-Kino gehen, das war angesagt und hat uns fast so hart | |
getroffen, als wenn Fußball-WM wäre“, so Graf Haufen. Und nun, wo | |
eigentlich die Kasse klingeln müsste, um die nächste Sommerflaute besser | |
überstehen zu können, mache sich die Zurückhaltung einiger Stammkunden doch | |
bemerkbar. „Die minimale Stabilität, die wir uns im Jahr vor Corona | |
erarbeitet hatten, wurde wieder ins Wanken gebracht“, sagt er, „wir | |
befinden uns eigentlich in einer ähnlichen Lage wie Anfang 2018.“ | |
Da stand das Videodrom kurz vor dem Aus. Es hatte Schulden aufgehäuft, | |
schien keine Perspektive mehr zu haben – zu wenige Kunden, zu hohe Miete im | |
Bergmannkiez. Man startete eine Spendenkampagne und forderte aus den Augen | |
verlorene Freunde des Hauses dazu auf, doch mal wieder vorbeizukommen, am | |
besten regelmäßig. Oder noch besser: eine „Premium-Clubmitgliedschaft“ | |
abzuschließen, ein Dauer-Abo für Vielausleiher. Und tatsächlich: Man konnte | |
dank des vielfach erhörten Hilferufs erst einmal das eigene Überleben | |
sichern. | |
Also ob mit oder ohne Corona: Es ist schwer geworden für Videotheken wie | |
das Videodrom. Video On Demand und die immer erfolgreicher werdenden | |
Streaming-Plattformen haben sie weitgehend obsolet werden lassen. Wer ist | |
noch interessiert am mühsamen Ausleihen von DVDs, wenn man sich viel | |
bequemer daheim durch das Programm von Netflix klicken kann. | |
Von den fast 3.000 Videotheken, die es im Jahr 2008 noch deutschlandweit | |
gab, sind Ende 2019 dann auch nur noch 345 übrig geblieben. Inzwischen | |
dürften es noch ein paar weniger sein. | |
In Berlin gibt es immerhin weiter vier Programmvideotheken, wie das | |
Videodrom eine ist. Also Orte, wo man nicht die nächstbesten Blockbuster | |
anpreist, sondern Filmschätze aus aller Welt, Indie- und Arthouse-Filme, | |
Obskuritäten und Ausgefallenes für echte Feinschmecker. 37.000 Filme hat | |
das Videodrom anzubieten, einige davon – man glaubt es kaum – auch als | |
VHS-Kassetten. Denn so manche übersehene Perle aus der Filmgeschichte hat | |
es nie bis zur Veröffentlichung auf DVD geschafft. Es braucht dann nur noch | |
ein passendes Abspielgerät für dieses Uralt-Analog-Format. | |
Anders als im Musikbereich gibt es bei der Verwertung von Filmen für den | |
Hausgebrauch bislang keine Rückorientierung hin zum physischen Format mit | |
spürbarem Effekt. Was für ein paar Musikliebhaber die [1][Wiederentdeckung | |
des Vinyls] ist, das ist den Filmfreunden vielleicht am ehesten noch der | |
Gang ins Arthouse-Kino. Die Umsätze mit DVDs dagegen sinken seit Jahren. | |
Für die meisten tut es auch das Streaming: ist weniger umständlich als das | |
Hantieren mit den Silberscheiben. Außerdem, so der allgemeine Glaube, hat | |
man sich den dauerhaften Zugriff auf die ganze Wunderwelt des Films ja über | |
seinen W-LAN-Anschluss gesichert. | |
Das aber sei ein grober Irrtum, so Graf Haufen: „Wenn man jenseits von | |
Neuheiten, Serien oder eigens von den Streaming-Plattformen produzierten | |
Sachen etwas sehen möchte, stößt man da schnell an Grenzen.“ Er nennt als | |
Beispiel die Klamotte „Pyjama für zwei“ mit Doris Day und Rock Hudson, für | |
ihn eine perfekte Lockdown-Komödie: „Ohne das jetzt bei diesem Film | |
verifiziert zu haben, wird man relativ viele Schwierigkeiten haben, den | |
irgendwo als Stream zu finden.“ | |
Eine kurze Recherche ergibt: Man findet ihn schon im Netz, aber nur bei | |
drei nicht so gängigen Anbietern, bei denen man erst Mitglied werden und | |
ihn dann auch noch kaufen müsste. Für knapp zehn Euro. | |
Tatsächlich ist es so: Die Streaming-Anbieter haben viel im Angebot, sehr | |
viel, und für jeden Geschmack ist genug dabei. Doch sobald es um | |
Filmgeschichtliches geht, um Klassiker aus dem vergangenen Jahrhundert, | |
wird es ziemlich dürftig. Man kann sich von den Algorithmen treiben lassen. | |
Aber wer gezielt nach dem ein oder anderen Meisterwerk fahndet, kann leicht | |
enttäuscht werden. Einfach mal wahllos nach „Das Cabinet des Dr. Caligari“ | |
von Robert Wiene oder „Lohn der Angst“ von Henri-Georges Clouzot gefahndet, | |
nach zwei Filmen, die in jedem Kanon auftauchen: gibt’s nicht als Stream. | |
Die großen Streaming-Firmen haben kein Interesse an Filmgeschichte. Sie | |
locken mit neuen Qualitätsserien und gefeierten Eigenproduktionen und | |
sorgen mit ihren Algorithmen dafür, dass man sich damit begnügt. Mit | |
ständig Neuem buhlen sie um Kunden, Altes ist eher Nebensache. Zwar haben | |
sie auch so manche Klassiker im Programm, doch die verschwinden schnell | |
wieder. Denn sie sind eben keine Archive. „Wir dagegen haben uns darauf | |
spezialisiert, Filmgeschichte auch in den markanten Eckpunkten abzubilden. | |
Und das nicht aus einem vordergründig kommerziellen Interesse, sondern weil | |
wir uns als Kulturarbeiter verstehen“, so Graf Haufen. „Bei uns gibt es | |
auch Filme, die in Deutschland nie gelaufen sind. Oder vielleicht bloß ein | |
einziges Mal auf der Berlinale. Und trotzdem haben wir die auf DVD, weil | |
wir die aus Japan oder sonst wo her besorgt haben.“ | |
Es ist nicht nur Graf Haufen, der davor warnt, sich den Streaming-Anbietern | |
völlig auszuliefern. Zu dem Thema wird ernsthaft geforscht. Was passiert | |
längerfristig, wenn die Verwaltung der Filmhistorie den Streaming-Firmen | |
überlassen wird? An den Rändern wird immer mehr in Vergessenheit geraten, | |
Unliebsames, politisch oder moralisch nicht mehr Opportunes könnte einfach | |
verschwinden. Bewahren tun dagegen die Programmvideotheken und die | |
öffentlichen Bibliotheken mit ihren Cinematheken. Aber je stärker die | |
Popularität der DVDs sinkt, desto schwieriger wird deren Archivarbeit. | |
„Wir merken das ja jetzt schon, wenn uns Filme abhanden kommen oder kaputt | |
gehen: Wie aufwendig es teilweise ist, gerade ältere Filme wieder zu | |
besorgen“, so Graf Haufen. „Und vieles findet gleich gar nicht mehr den Weg | |
auf DVD, das schmerzt mich besonders.“ | |
Er hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass es wenigstens ein minimales | |
Comeback der Programmvideotheken geben könnte. Er glaubt stur an seine | |
Sache, will auch in Zukunft nicht nebenbei noch Kaffee ausschenken oder | |
sonst was anbieten außer bester Beratung für Interessierte, die neugierig | |
sind auf Filmkunst jenseits des Gängigen. Und es gebe sie ja auch, die | |
Kunden, die ihm sagen, sie hätten ein Jahr lang ein Netflix-Abo gehabt, | |
jetzt aber wieder Lust auf etwas anderes. „Es kommen tatsächlich auch junge | |
Menschen mit filmischem Interesse zu uns, die nicht nur Neuheiten gucken | |
wollen.“ | |
Die Situation für das Videodrom ist düster und Corona hilft auch nicht | |
gerade. Aber Graf Haufen sagt am Ende unseres Gesprächs dennoch diesen | |
hoffnungsfrohen Satz: „Wir haben schon mehrere Krisen überwunden und ich | |
bin der Überzeugung, dass wir überleben werden, weil Qualität sich | |
durchsetzen wird.“ | |
18 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Hartmann | |
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