| # taz.de -- Neues Album von Tara Nome Doyle: Ein Loblied auf die Gemächlichkeit | |
| > Die Musikerin Tara Nome Doyle mag Ungeziefer. Nun erscheint ihr zweites | |
| > Album: „Værmin“. Ambivalenz ist eine zentrale Qualität ihres Sounds. | |
| Bild: Die eigene Stimme weiterentwickeln: Tara Nome Doyle | |
| Motten, Blutegel, Schnecken, [1][Krähen:] Diese Tiere haben wenig gemein – | |
| außer, dass Menschen sie oft nicht mögen, bisweilen gar mit Ekel | |
| betrachten.Vielleicht ja, weil einige dieser Tiere allzu deutlich auf | |
| unsere schlechten Gewohnheiten verweisen. Etwa den Müll, den wir | |
| produzieren. Und so schimpfen wir diese faszinierenden Kreaturen einfach: | |
| Ungeziefer. Keine biologische Kategorie wohlgemerkt – lediglich eine | |
| Zuschreibung aus Menschenperspektive. | |
| Die erwähnten Lebewesen verbindet zudem, dass sie von Tara Nome Doyle | |
| besungen werden. Die in Berlin geborene und aufgewachsene | |
| irisch-norwegische Musikerin hat auf ihrem zweiten Album, „Værmin“, | |
| ebensolche vermin – so der englische Überbegriff für alles Ungetier – zur | |
| Assoziationsfolie für eine Liebesgeschichte gemacht. „Zwei sehr | |
| gegenteilige Charaktere“, so fasst sie den Songreigen im Zoom-Interview | |
| zusammen, „werden voneinander angezogen; es endet tragisch.“ | |
| Dabei arbeitet sich Doyle mit den atmosphärischen Songs nicht an einer | |
| konkreten Erfahrung ab – zumindest nicht vordergründig. Trotz der | |
| introspektiven Anmutung der einzelnen Stücke ergeben sie keine Nabelschau, | |
| sondern eine vielstimmige Erzählung – was den Songs bei aller Schwermut | |
| auch Luft zum Atmen gibt. Neben ihrer nuancenreichen Stimme und einer trotz | |
| Streichern eher kargen Instrumentierung spielt ihr Klavier dabei die | |
| tragende Rolle. | |
| Doyles Songs, insbesondere ihre Texte, seien nicht nur von einer Liebe | |
| inspiriert, „sondern zudem von Beziehungen zur Familie, Freundschaften und | |
| dem, was Leute im Umfeld eben so erleben“. Trocken stellt sie fest: | |
| „Ungesunde Beziehungen finden sich überall, wenn man genauer hinguckt.“ | |
| Allzu eindeutig soll die Stoßrichtung ihres Kammerpopentwurfs allerdings | |
| nicht sein, so die 24-Jährige: „Vielleicht erzählt die Musik gar nicht von | |
| einer Liebe, sondern beschreibt eine innere Auseinandersetzung mit sich | |
| selbst.“ Die Abgründe, die in Doyles Songs stecken, überführt sie immer | |
| wieder in einen Schwebezustand, Ambivalenz ist eine zentrale Qualität ihres | |
| Sounds. | |
| ## Schnecken sind positiv | |
| Der erst sanft schwingende, sich dann hochschraubenden Song „Snail I“ etwa | |
| ist ein Loblied auf die Gemächlichkeit, gerade in Liebesfragen: „Slow and | |
| steady wins the race.“ Im Song „Snail II“ fordert sie Behutsamkeit ein: | |
| „Think of me / when you see a snail / remember how long it took / us to get | |
| here.“ Schnecken nehmen in Doyles Ungeziefer-Kosmos eine eindeutig positive | |
| Rolle ein. | |
| Eingerahmt wird die Liebesgeschichte von den zwei Liedern „Leeches I“ und | |
| „Leeches II“, angelehnt an die von Menschen oft nicht gerade geschätzten | |
| Blutegel. „Die beiden Songs“, erklärt Doyle, „handeln von einer toxischen | |
| Beziehung, an der beide Partner festhalten – auch die ausgenutzte Person.“ | |
| Und, fügt die Künstlerin hinzu, niemand werde nur ausgenutzt. „Deshalb war | |
| mir wichtig, aus beider Perspektive zu singen.“ | |
| Im ätherisch klingenden Auftaktsong „Leeches I“ geht es darum, | |
| hingebungsvoll in einer Beziehung aufzugehen. Das Gegenüber in „Leeches II“ | |
| antwortet eher kühl: Schönen Dank, allerdings habe ich dich darum nicht | |
| gebeten, schuldig bin ich dir nichts. | |
| ## Frühe Erfahrungen | |
| Die unterschiedlichen Perspektiven auf „Værmin“ finden ihre musikalische | |
| Entsprechung darin, dass Doyle nun das volle Spektrum ihrer Gesangsstimme | |
| nutzt. Das stimmlich deutlich muskulöser klingende „Leeches II“ ist der | |
| erste Song überhaupt, den sie für ihre Bruststimme geschrieben hat. | |
| Dass sie trotz reichlich Erfahrung – Singen war in ihrer Familie | |
| alltagsbegleitend, erste eigene Songs komponierte sie bereits mit zwölf – | |
| früher immer [2][mit ihrer Kopfstimme] gesungen hat, wurde ihr vor wenigen | |
| Jahren bewusst – dank eines Gesangslehrers bei einem Vorbereitungskurs für | |
| ein Popmusik-Studium. „Eine faszinierende Erfahrung“, sagt Doyle. „Ich ha… | |
| mich singen gehört, aber nicht wieder erkannt, weil ich so anders klang. | |
| Zuerst empfand ich meine Bruststimme als superhässlich.“ | |
| Als [3][Doyle die Stücke beim Berliner Festival „Pop-Kultur“ 2021 erstmals | |
| vor Publikum spielte], fiel ihr auf, dass sie in dieser tieferen Stimmlage | |
| eine andere Präsenz hat. „Es fühlte sich einnehmend an, fast | |
| einschüchternd, diese Stimme zu nutzen.“ Diese als theatralisches Mittel zu | |
| nutzen, so Doyle, war eine interessante Erfahrung. | |
| ## Die Stimme weiterentwickeln | |
| „Eben nicht sanft und vorsichtig zu klingen, wie es meistens mein Ansatz | |
| ist. Sondern beim Singen auch Härte und Rauheit zu spüren.“ Eine Art | |
| Momentaufnahme. „So werde ich nie wieder singen. Der große Unterschied | |
| zwischen den Stimmlagen war diesmal Absicht; die Songs auf dem Album haben | |
| von der scharfen Trennung profitiert.“ Dennoch wolle sie die nicht zu ihrem | |
| Stilmittel machen: „Das eigentliche Ziel ist ja, Kopf- und Bruststimme | |
| zusammenzuführen. Ich will meine Stimme weiterentwickeln.“ | |
| Zu dem Dualismus, den Doyle durch diese voneinander getrennten Stimmen in | |
| die Musik trägt, passt eine weitere Idee, mit der sie auf „Værmin“ | |
| gearbeitet hat: Die Aufteilung der menschlichen Persönlichkeit in Persona | |
| und Schatten, wie sie von dem Psychiater C. G. Jung, Begründer der | |
| analytischen Psychologie, im frühen 20. Jahrhundert formuliert wurde. | |
| Persona, auch „Theatermaske“ genannt, bezieht sich dabei auf das | |
| positive, oft etwas naive Selbstbild einer Person. Schatten beschreibt | |
| dagegen die unbewussten Persönlichkeitsanteile; teilweise können sie einem | |
| kollektiven Unbewussten entstammen. | |
| Es ist nicht das erste Mal, dass Doyle Inspiration bei Jung gefunden hat. | |
| Schon auf ihrem Debütalbum „Alchemy“ (2020) nahm sie auf seine Forschungen | |
| Bezug; seinerzeit ging es um Jungs Beschäftigung mit der Alchemie und der | |
| Frage, was sie mit psychologischer Entwicklung zu tun hat. Diesmal hat | |
| Doyle nun unser aller blinden Flecken im Visier. Und wirbt dabei, um noch | |
| einmal auf das Ungeziefer zurückzukommen, um einen wertfreieren Blick auf | |
| jene Wesenszüge, die wir gemeinhin mit Schädlingen assoziieren. Auf dem | |
| Close-up, welches das Albumcover ziert, guckt Doyle jedenfalls nicht mit | |
| Ekel auf die schwarze Raupe, die über ihre Wange kriecht; eher mit | |
| freundlicher Neugierde. | |
| ## Persona und Schatten | |
| Doch woher rührt die wiederholte Beschäftigung mit Jung? Ist es dem | |
| allgemeinen Interesse an Psychologie geschuldet – einem Fach, das Doyle | |
| studiert hat, bis ihr klar wurde, dass sich das nicht so einfach neben der | |
| Musik stemmen lässt? Eigentlich hatte sie, so erzählt sie, nach „Alchemy“ | |
| nicht die Absicht, sich weiter C. G. Jung zu widmen. Doch dann sei sie auf | |
| die Vorstellung von Persona und Schatten gestoßen, die sie spannend fand. | |
| „Oft sind Dinge, die man an sich selbst nicht mag, auch die Züge, die man | |
| bei anderen schlecht tolerieren kann – was man sich allerdings ungern | |
| eingesteht.“ | |
| Was Doyle an Jung weiterhin gefällt: Obwohl er eine wissenschaftliche | |
| Perspektive einnimmt, ist er offen für spirituelle Themen und traditionelle | |
| Weisheiten. Dies mache seine Theorien zugänglicher. „Er hat sehr klare | |
| Bilder geschaffen. Und ich arbeite gerne mit konkreten Bildern. Auf,Værmin' | |
| etwa waren es konkret die Tiere, die mir Inspiration beim Komponieren | |
| gaben.“ | |
| Auch wenn Doyle gerne mit Konzepten arbeitet – für das nächsten Album | |
| erwägt sie, darauf zu verzichten. Im Vertrauen, dass die Einfälle kommen, | |
| wenn sie es sollen. So souverän, wie sie auf ihren bisherigen Alben | |
| Ideenkonstrukte in atmende Songs verwandelt – die rund wirken und einen | |
| doch stolpern lassen –, sollte ihr das gelingen. Auch ohne theoretischen | |
| Überbau. | |
| 29 Jan 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Stephanie Grimm | |
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