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# taz.de -- Wahlkampf aus Sicht der Kulturredaktion: Tobt Euch doch zu Hause au…
> Emotionen, Wattebäuschchen, Moses-Anspielungen, Generationsgequatsche und
> Unsicherheiten: Fünf Zwischenrufe auf dem Weg zum Finale im Herbst.
Bild: Historische Wahlplakate in der Schau „Wähl mich! Parteien plakatieren�…
## Zu viel Gefühl für uns alle
Lange Jahre nun haben die politischen Kommentator:innen mehr Empathie
von der Politik gefordert. Und auch nach langen Jahren nun ist Ihnen noch
nicht aufgefallen, wie schlicht und sinnlos diese Forderung ist. Nicht nur,
weil die bloße Forderung an sich ja noch kein Schöpfungsakt ist, was viele
aber zu glauben scheinen, wenn sie gebetsartig mehr Empathie fordern,
sondern auch deshalb, weil mehr Empathie nicht gleich rationales Handeln
nach sich zieht oder gar einen moralischen Fortschritt bedeutet, wie wohl
unterstellt wird.
Auch die größten Sadisten und Soziopathen haben eine hohe
Empathiefähigkeit, wie man längst wissen kann. Aber langsam ist ohnehin
Schluss mit Empathie, denn längst ist die Sprechblase mit einem anderen
Wort gefüllt: Mut. Die Politik und gar Gesetze sollen mutig sein,
Politiker:innen sollen mehr Mut beweisen, schallt es uns dauernd
entgegen. Als wäre die ganze Parlamentarismusveranstaltung eine
Heidi-Klum-Show.
Diese Begriffskonjunkturen sind gute Indikatoren für eine Verschiebung des
politischen Modus, der längst stattgefunden hat. Wenn Empathie häufiger
gefordert wird als Solidarität und Mut Gerechtigkeit ersetzt, hat eine
Emotionalisierung und Personalisierung von Politik stattgefunden.
Nun werden einige einwenden, Politik sei per se nicht von Emotionen zu
trennen, und die Parteiendemokratie habe sich längst zu einer
Mediendemokratie gewandelt. Aber was bringt die Labelung „Mediendemokratie“
und die Verlagerung auf die Affekte außer der Feststellung des
Offensichtlichen, dass nämlich die sozialen Medien das Politische und die
Politik verändert haben?
Will man wirklich ein soziales Funktionssystem mit seinen Regeln und
Verfahrensweisen durch Kategorien des Menschlichen ersetzen? Angela Merkel
hatte am vergangenen Mittwoch ihre letzte Fragestunde im Bundestag. Wenig
überraschend assoziierten die Kommentator:innen wieder Einsilbigkeit
und Kälte.
Doch Merkels Worte zeugten von etwas anderem: von einem Politikverständnis,
das das Amt höher bewertet als die Emotion und die Person. Sie sagte zum
Abschied: „Ich bedanke mich, dass Sie Ihren Regeln entsprechend handeln.“
Und nun, verehrte Leser:innen, toben Sie Ihre Leidenschaft, Ihre Scham und
Ihren Ekel einfach mal ganz allein zu Hause aus.
## Wieder loslegen, Bäume abhacken
„Wenn es um die Macht geht, wird nicht mit Wattebäuschchen geworfen“, sagte
[1][Ex-Außenminister Joschka Fischer gerade in einem Interview mit dieser
Zeitung]. Der einstige Obergrüne hat recht; wie viele Spitzenpolitiker
derzeit im Wahlkampf einmal mehr erfahren. Annalena Baerbock (Grüne) wird
ein aufgehübschter Lebenslauf vorgehalten. Olaf Scholz (SPD) hat die
Potsdamer Nachbarn seiner neuen Mietwohnung am Hals. Diese fühlen sich
durch Kontrollgänge der ihn schützenden Polizisten in ihrer
Lebensqualität negativ beeinträchtigt. Medien und soziale Medien weiden
sich daran.
Derweil hält Franziska Giffey eisern an ihrer Erzählung der braven
proletarischen Ostfrau fest. Die Spitzenkandidatin der SPD in Berlin sucht
so die Scharte des erschlichenen Doktortitels auszubügeln. Wollen wir denn
nicht alle Doktor sein? Und ist das nicht ungerecht, wenn sie es als
ostdeutsche Tochter einer Buchhalterin und eines Kfz-Meisters nun nicht
mehr sein darf?
Dem Spiegel erzählt sie, dass sie auf ihre Abschlussarbeit weiterhin stolz
ist. „Das, was ich dabei gelernt habe, kann mir keiner mehr nehmen“, sagt
Giffey. So ist das jetzt also, nun will sie die Beklaute sein.
Als der letzte deutsche Kaiser im November 1918 vor der Revolution in die
Niederlande nach Schloss Amerongen flüchtete, brachte er eine unheimliche
Wut mit. Er ließ sie an den Bäumen im Park seiner Quartiergeber aus.
[2][Jan Bachmann erzählt davon in seiner virtuosen Graphic Novel]. Baum um
Baum hackte „Der Kaiser im Exil“ ab und schredderte dort das Grün. Während
der Coronapandemie konnte man hoffen, dass die Krise viele kritischer
macht. Etwa gegenüber globalen Lieferketten, unnötigen Flugreisen, fiesem
Billigfleisch, giftigem Plastikmüll, Nippes und Statussymbolen.
Doch nach der Pandemie scheint vor der Pandemie. Jetzt wird wieder
losgelegt. Rauf auf die Kreuzfahrtschiffe. Zurück zur Normalität! Und was
ist mit den Wattebäuschchen? Erst wenn der letzte Steingarten verlegt ist,
werdet ihr merken, dass diese dummen Steine keinen Schatten spenden.
## Lobbyarbeit rückwärts
Lieber Hubertus Pellengahr,
Ihr Tun als Geschäftsführer der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft
(NSM), einem Tochterunternehmen des Instituts der deutschen Wirtschaft
(IW), einer Lobbyorganisation, gegründet vom Arbeitgeberverband
Gesamtmetall (ME), verfolge ich zunehmend mit Argwohn. Nicht nur, dass Sie
auch anderthalb Jahre nach Beginn der Coronakrise unbeirrt an neoliberalen
Hirngespinsten wie Deregulierung, Privatisierung und – am verwerflichsten –
an einer wettbewerbsorientierten Bildungspolitik festhalten.
Sie zeichnen auch verantwortlich für die forsch nach rechtsaußen schielende
Verunglimpfung der Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, die Sie in
ganzseitigen Anzeigen in zahlreichen überregionalen Tageszeitungen und in
Säulenwerbung auf den Internetseiten großer Medienunternehmen im Stile des
Propheten Moses vor Kurzem als Verbotspolitikerin verunglimpft haben. Es
ist ja nicht Ihre erste fragwürdige Aktion – Stichwort Voodoopuppen an
Politiker:innen schicken!
Aber mit der möglicherweise bewusst falsch gesetzten Analogie von Frau
Baerbocks zukunftsgewandter Politik mit Moses’ Dekalog, bei dem es um
Handlungsanweisungen für ein friedliches Zusammenleben geht, wie Ihnen
jeder halbwegs religiös bewanderte Mensch sofort erklären kann, ist nun
Schluss mit lustig! Jüdische Verbände haben zu recht auf die
antisemitischen Untertöne in dieser Werbekampagne hingewiesen. „Es darf
aber nicht darum gehen, die Steuern für vermeintlich Reiche zu erhöhen oder
Unternehmen bei der Pflicht zum Homeoffice zu belasten.“
Das haben Sie kürzlich im Brustton Ihrer Überzeugung geschrieben. Allein
das Adjektiv vermeintlich zeigt schon, dass es in Ihrer Lobbyarbeit
anscheinend nicht um Werte wie Fairness, Zurückhaltung und Bescheidenheit
geht. Auch darum möchte ich lieber vorwärts in die Zukunft mit Annalena
Baerbock als mit Ihnen zurück in die Zeit von Ludwig Erhardt.
## Das Gequatsche über Generationen
Meine erste Bundestagswahl war die im September 2002, als Edmund Stoiber
gegen Gerhard Schröder antrat. Stoiber war damals 60, Schröder 58. Angela
Merkel war im Jahr 2005, als sie erstmals zur Bundeskanzlerin gewählt
wurde, immerhin erst knapp Ü-50, bei der letzten Bundestagswahl, bei der
sie als Kanzlerkandidatin ins Rennen ging, dann 63.
Wie ein Naturgesetz fühlte es sich als junge Erwachsene an, dass
Spitzenpolitiker:innen, vor allem jene, die vor Bundestagswahlen beworben
wurden, sich immer mindestens in ihrem fünften Lebensjahrzehnt befinden
müssten, Menschen mit grauen Schläfen, in grauen Anzügen.
Fast schon nachvollziehbar erscheint es da, dass Ende April, als Annalena
Baerbock, Jahrgang 1980, zur Kanzlerkandidatin der Grünen gekürt wurde, die
Zeitungen voll waren mit blumigen Texten über die „Generation Annalena“
beziehungsweise die „Generation Baerbock“. Von der „Stunde der 40-Jährig…
war die Rede, die lange übersehen worden wären, weil diese – vor allem die
exakt 1980 Geborenen, zu denen auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn
zählt – weder der Generation X noch der Generation Y eindeutig zuzuordnen
seien, also weder den zynischen Hedonist:innen noch den überforderten
Sinnsucher:innen.
Baerbock selbst reiht sich in ihrem eben erschienenen Buch „Jetzt. Wie wir
unser Land erneuern“ scheinbar auch in den Diskurs ein: „Ich gehöre zu
einer Generation, die weder jung noch alt ist, sondern mittendrin“, wird
sie in der FAZ zitiert. Womit sie nach Zahlen absolut recht hat: Das
Durchschnittsalter der deutschen Bevölkerung liegt bei 44,5 Jahren.
Bleibt die Frage nach dem Erkenntnisgewinn. Mehr Inhalt, weniger Gequatsche
über Geburtsjahrgänge wäre eine gute Nachricht für alle Generationen. Ein
Ende scheint aber nicht in Sicht: Ein neues Generationenfass hat kürzlich
Scholz aufgemacht, er sprach von der „Generation T“, wobei T für
Transformation steht und für den Wandel mal wieder nur die Jüngeren in die
Verantwortung gerufen werden.
## Unsicherheit und Gesellschaft
So erhellend Niklas Luhmanns Studie „Die Politik der Gesellschaft“ auch
ist, es gibt keinen ungünstigeren Zeitpunkt, sie zu lesen, als einen
beginnenden Wahlkampf. Wahlen konfrontieren, so der Soziologe kühl, „die
Politik mit einer für sie unbekannten Zukunft“. In ihnen zeigt sich, dass
es „schon wegen der Vielfalt der Themen und Interessen keinen sicheren
Schluss von Machtausübung auf Machterhaltung oder von Machtkritik auf
Machtgewinn gibt“.
Die durch regelmäßige Wahlen erzeugte Ungewissheit ist „die Voraussetzung
dafür, dass politische Operationen nicht errechnet werden können, sondern
als Entscheidungen getroffen werden müssen“. So weit Luhmann, in aller
systemtheoretischen Abgeklärtheit. Aber will man das alles zu einem
Zeitpunkt wissen, an dem man längst von Emotionen, Empörungen und
Hoffnungen eingefangen ist?
Luhmann lässt bei seinen Überlegungen (ganz bewusst natürlich, denn es
passt nicht in seine Fragestellung) außen vor, dass durch Wahlen erzeugte
Ungewissheit lebensweltlich nicht einfach beobachtet, sondern performativ
durchlebt wird. Drama! Genau das erfährt man aber in Wahlkämpfen
prinzipiell und in dem begonnenen Wahlkampf auch schon zur Genüge.
Weder gelang es der CDU, ihre Merkel-Nachfolge chaosfrei über die Bühne zu
bringen (Hoffnung auf linker Seite!), noch können die Grünen trotz aller
Selbstdisziplin ihr Projekt einfach durchschieben, die ökologische
Veränderung von der Mitte der Gesellschaft aus anzugehen (Ernüchterung oder
Schadenfreude links, je nachdem).
Wenn man hinzudenkt, dass sich schon bei Veränderungen von wenigen
Prozentpunkten bei einzelnen Parteien ganze Konstellationen ändern können –
gibt es Mehrheiten für Schwarz-Grün oder für Rot-Rot-Grün oder für die
Ampel? –, ist es schon sehr viel Ungewissheit, die diese Wahl produziert.
Es ist, als hätte die Gesellschaft Luhmann gelesen. Und als setzte sie die
Theorie nun fast ein bisschen zu entschlossen um.
28 Jun 2021
## LINKS
[1] /Ex-Aussenminister-Joschka-Fischer/!5777365
[2] https://www.editionmoderne.ch/buch/der-kaiser-im-exil/
## AUTOREN
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Julian Weber
Beate Scheder
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