| # taz.de -- Beobachtungen und Gedanken zur Wahl: Stolz und Misstrauen | |
| > Das Kulturressort der taz blickt auf die Wahl. In Erinnerung bleiben | |
| > beschmierte Plakate, Unterschriftenzwang, eine Briefwahl mit Querdenkern, | |
| > Eden und Hochgefühle. | |
| Bild: Auch sie gehörten dieses Jahr leider dazu: beschmierte Wahlplakate | |
| ## Der Souverän spricht und kritzelt | |
| „Der Souverän hat gesprochen.“ Zum ersten Mal habe ich diese Sentenz wohl | |
| von [1][Joschka Fischer] gehört. Er sprach sie aus in Erwartung eines | |
| Wahlergebnisses, dem er sich nach Schließung der Wahllokale zu stellen | |
| hatte. Die Nüchternheit solch eines normalen demokratischen Vorgangs steht | |
| dem hohen Maß an Emotionen gegenüber, mit dem das Stimmvieh bei einer | |
| politischen Wahl agiert. | |
| Spricht der Souverän bereits vor der eigentlichen Stimmabgabe, wenn er zum | |
| Beispiel Wahlplakate verunziert? Und geht auch diese Form der | |
| Meinungsäußerung als politische Willensbildung durch? Das Dictionary | |
| definiert sie als „Prozess, bei dem mit unterschiedlichem Gewicht bestimmte | |
| Gegebenheiten (Zustände, Fakten) und bestimmte Absichten (Interessen, | |
| Ideen) zu politischen Überzeugungen, Zielen und gegebenenfalls politischen | |
| Handlungen führen.“ | |
| Wenn also jemand auf ein Plakat des Linken-Kandidaten Pascal Meiser | |
| schreibt: „Du siehst müde aus“ und jemand anderes „Nicht ausschlaggebend… | |
| hinzufügt, ist das schon eine Art Diskurs? „Nee, lass ma’“ wird dagegen … | |
| CDU-Plakat abschlägig bewertet, das die Polizeipräsenz im Viertel erhöhen | |
| möchte. Reicht dies als Antwort? Oder fehlt die Äquidistanz, denn auch | |
| CDU-Kandidatenfotos wurden unisono und nicht sehr kreativ mit | |
| „Korrupt“-Aufklebern versehen. | |
| Auch Wahlplakate der Grünen erregen die Gemüter. Je weiter es aus dem | |
| Stadtzentrum hinausgeht, desto stumpfer fällt der Protest gegen die | |
| etablierten Parteien aus. In Krakelbuchstaben steht flächendeckend | |
| „Kriegspartei“ geschrieben. „Linksfaschisten“ steht unter Fotos von | |
| Annalena Baerbock auf dem Mittelstreifen einer Ausfallstraße, während | |
| Plakate von SPD-Kandidat Olaf Scholz gleich vom Holzrahmen heruntergerissen | |
| wurden. | |
| In der Innenstadt ist nirgendwo Wahlwerbung von rechtsradikalen Parteien zu | |
| sehen. In Kaulsdorf hängt auf der sechsspurigen Straße neben jeder | |
| Tankstelle ein Plakat der AfD: „Wer hat die Spritpreise erhöht?“ Der | |
| Fahrradweg ist holprig und schmal. Julian Weber | |
| ## Unterschriftstellerin geht wählen | |
| Nicht länger als vielleicht eineinhalb Minuten nachdem Prof. Dr. Maßmann | |
| die Wahlkabine betreten und einen ersten, flüchtigen Blick auf den | |
| Wahlzettel geworfen hatte, stieg in ihr ein mächtiger Ärger darüber auf, | |
| dass sie den Zettel nicht sollte unterschreiben dürfen. | |
| Eine gewisse sonntägliche Routine hatte sie aus dem Schreibzimmer | |
| hinausgeführt, ohne zu überlegen hatte sie den Weg in das Wahlbüro | |
| angetreten, vielleicht war es ein wissenschaftliches Interesse, das sie | |
| dazu veranlasst hatte, so erklärte es sich zumindest Prof. Dr. Maßmann. Sie | |
| legte stets großen Wert auf ihren Titel, was sie sich selbst nicht recht | |
| erklären konnte, war sie doch, was ihre Herkunft anging, Historikerin in | |
| dritter Generation, eine gewisse Gewohnheit dem Titel gegenüber war ihr | |
| also gegeben, aber vielleicht lag es eben an genau dieser Gewohnheit, dass | |
| sie stets auf dem vollen Namen bestand. | |
| Doch Routine hin oder her, es war eine andere, erst jüngst sehr lieb | |
| gewonnene Sache, die ihr das Setzen des Kreuzes seltsam, gar übertrieben | |
| demütig erschienen ließ. Marx’ Klage über den parlamentarischen Idiotismus | |
| etwa hatte sie doch stets scharf kritisiert, woher aber rührte dann ihr | |
| plötzlicher Ärger; war es gar Wut, die sie fühlte? | |
| Nervös nahm sie ihren silbernen Kugelschreiber aus der Tasche hervor, | |
| führte ihn zum Zettel, konterte das leichte Zittern ihrer Hand mit einem | |
| entschlossenen Spitzen des Mundes, setzte den Absatz ihres linken Pumps | |
| exakt neben den ihres rechten und schrieb in großen Lettern auf den langen | |
| Zettel mit seinen vielen Spalten und vielen Namen: Professor Dr. Maßmann. | |
| Erleichtert, die erst jüngst so liebgewonnene Gewohnheit der | |
| Unterschriftstellerei erneut ausgeführt zu haben, verließ sie das | |
| Wahllokal, nicht bevor sie den Zettel pflichtgemäß in die Urne geworfen | |
| hatte, und zischte im Hinausgehen: Herr, gib mir meinen täglichen Offenen | |
| Brief. Tania Martini | |
| ## Das Grundrauschen wieder abstellen | |
| Die Kommunen melden seit einigen Wochen [2][neue Rekorde beim | |
| „Briefwahlaufkommen“.] In Nordrhein-Westfalen etwa rechnen die Gemeinden | |
| mit einem Anteil von 50 Prozent an Briefwählerinnen. Dass die Zahl in | |
| Berlin ähnlich hoch ausfallen könnte, macht der eigene Besuch beim | |
| Bezirkswahlamt zumindest plausibel. | |
| Beim Abholen der Wahlunterlagen wartet vor dem Büroraum eine mittellange | |
| Schlange, alle mit Abstand zueinander, am Ende des Gangs herrscht Betrieb | |
| bei den Wahlkabinen. Erstaunlich, wie viele Leute ihre Kreuze, in Berlin | |
| sind es diesmal immerhin sechs, gleich an Ort und Stelle machen. Fast wie | |
| Wahltag. Erfreulich zugleich, wie freundlich zuvorkommend und entspannt die | |
| Wahlhelferinnen trotz Dauereinsatzes ihren Dienst tun. | |
| Vor dem Gebäude stehen Leute, die anscheinend schon ihren Anteil am Wirken | |
| der Volkssouveränität geleistet haben. Sprechen einvernehmlich über Sinn | |
| und Unsinn der allgemeinen Pflicht zum Tragen von FFP2-Masken, die bei | |
| Bartträgern ja bekanntlich „wirkungslos“ seien. Reflexhafte Sorge, wem | |
| dieser Mann, der sich – an der frischen Luft, daher ohne Maske – den | |
| Coronamaßnahmen gegenüber derart skeptisch gezeigt hat, wohl seine Stimme | |
| gegeben haben könnte. | |
| Gesundes Misstrauen? Diese Alarmhaltung, um sich herum allenthalben | |
| Querdenker mit Neigung zur AfD zu wittern, gehört anscheinend zum | |
| tendenziell pauschalisierenden Grundrauschen bei dieser Wahl. Hätte man | |
| direkt mal nachfragen können, wie das denn bitte gemeint sei. Aber will man | |
| das? | |
| Rauschen wieder abgestellt: ein beruhigendes Gefühl, den blauen Umschlag | |
| beim zweiten Amtsgang im roten Umschlag in die Wahlurne geworfen zu haben. | |
| Auch wenn es schöner gewesen wäre, am Wahltag in die Schule um die Ecke zu | |
| gehen. Tim Caspar Boehme | |
| ## Kreuzchen in der Obstbausiedlung | |
| Da ich meinen Hauptwohnsitz bei meinen Eltern gemeldet habe, bedeutet | |
| Wählengehen für mich, dass ich nach Eden fahren werde, um dort meine Stimme | |
| abzugeben. [3][Eden, das ist die älteste Obstbausiedlung Deutschlands,] | |
| benannt nach dem biblischen Paradies, und der Ort, wo ich die ersten 18 | |
| Jahre meines Lebens verbracht habe. Ich kenne dort jede Straße, jeden | |
| Winkel und jede Hecke, und wahrscheinlich kennt auch jeder mich, aber ich | |
| erinnere mich immer besser an Orte als an Gesichter. | |
| Als ich fünf war, habe ich mit meiner Mutter im neuen Kindergarten ein | |
| Konzert besucht, und ich war unglaublich fasziniert von den Instrumenten, | |
| besonders von den Geigen. Meine erste Geigenstunde hatte ich dann im alten | |
| Presshaus, dort wurden früher Äpfel zu Saft verarbeitet, und bis vor ein | |
| paar Jahren stand sogar noch die alte Presse im Hauptraum. Morgen wird dort | |
| die Wahl stattfinden, ist besser wegen der zwei Ausgänge, sonst war sie | |
| immer im Festsaal. | |
| In diesem Festsaal war ich das erste Mal mit meinem Vater wählen. Drinnen | |
| sah alles sehr offiziell aus. Ich durfte sogar mit in die Kabine und mir | |
| den Wahlschein angucken, aber ich musste mir die Augen zuhalten, als mein | |
| Vater die Kreuze machte, ist ja eine geheime Wahl. Morgen, im Presshaus, wo | |
| ich so oft mit der kleinen Quietschegeige stand, gehe ich als einer der | |
| wenigen jungen Menschen wählen, und wahrscheinlich werde ich mein Kreuzchen | |
| ähnlich setzen wie meine Eltern und Großeltern und viele Edener:innen | |
| auch. | |
| Doch nicht alle Bewohner der Obstbausiedlung sind so überzeugte | |
| Naturliebhaber. Und ich hoffe inständig, dass sie ihre deutschen Eichen und | |
| penibel geraden Beete beim Wählen zu Hause lassen. Charlotte Eisenberger | |
| ## Hochgefühl und Bohnerwachs | |
| Gewählt habe ich schon in Schulen, Gemeindehäusern, Krankenhäusern, einmal | |
| in einem Altersheim. Politische Wahlen riechen irgendwie nach Bohnerwachs. | |
| Das Improvisiertwirkende daran – in einem großen Raum werden mal eben die | |
| Stühle und Tische beiseite gerückt, Sichtblenden aus Pressholz werden als | |
| Wahlkabinen aufgestellt, freundliche Nachbarn fungieren als Wahlhelfer – | |
| hinderte mich aber nie, an diesem Tag eine leise Erhebung zu empfinden, | |
| eine Art Stolz, fast Rührung. Und das, obwohl ich mich keinen Illusionen | |
| darüber hingebe, ausgerechnet mit meiner Stimme etwas „bewirken“ zu können | |
| (politische Prozesse sind dann doch komplizierter). | |
| Dieses Hochgefühl hält auch Abkühlungen etwa durch Niklas Luhmann aus, der | |
| politische Wahlen auf die Erzeugung einer „relativ kurzfristigen | |
| Ungewissheit“ herunterbricht; das politische System garantiere sich durch | |
| Wahlen selbst das Unbekanntsein seiner Zukunft. Mag ja sein, doch woher | |
| kommt dann mein Hochgefühl? | |
| Rousseau meinte im „Contrat social“, die Briten seien nur während der | |
| Stimmabgabe frei und ansonsten Sklaven. Christoph Möllers bezieht sich in | |
| seinem Buch „Freiheitsgrade“ (lesenswert!) auf diesen Gedanken und hält | |
| dagegen: „Die Parlamentswahl ist nicht nur eine Form organisierter | |
| Freiheit, sie setzt auch andere Praktiken der Freiheit vor und nach der | |
| Wahl voraus.“ | |
| Im Umfeld dieses Arguments denkt Möllers über Solidarität, Engagement, | |
| politische Energie und Mobilisierung nach. Ich und mein Hochgefühl, wir | |
| sind an Wahltagen offenbar Team Möllers, selbst trotz der Enttäuschung, | |
| dass zum Beispiel die Mobilisierung fürs Klima in der aktuell anstehenden | |
| Wahl nicht geglückt sein wird. | |
| Es ist eben vielleicht nicht nur politischer Kitsch, sein Hochgefühl als | |
| Ausdruck der Solidarität zu lesen, und zwar eben gerade nicht für abstrakte | |
| Begriffe wie Nation oder repräsentative Demokratie, sondern für die | |
| Bürger*innen, mit denen man sein politisches System (und den Geruch nach | |
| Bohnerwachs) teilt. Dirk Knipphals | |
| 26 Sep 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Ex-Aussenminister-Joschka-Fischer/!5777365 | |
| [2] /Politologe-ueber-verstaerkte-Briefwahl/!5792712 | |
| [3] /Gartenstaedte-in-Brandenburg/!5209671 | |
| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
| Tania Martini | |
| Tim Caspar Boehme | |
| Charlotte Eisenberger | |
| Dirk Knipphals | |
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