# taz.de -- Psychedelikband Vanishing Twin: Vollmond über London | |
> „Ookii Gekkou“ heißt das neue Album der Psychedelikband Vanishing Twin. | |
> Es mischt Polyrhythmen, seltsame Sounds und Latinbeats zu einem | |
> Mahlstrom. | |
Bild: Heller Mond: Vanishing Twin haben viel Potenzial | |
An dem Küchentisch, wohin „In Cucina“ die Hörer*in entführt wird, hätte | |
man den vergangenen endlosen Lockdown-Winter gerne ausgesessen – so sehr | |
man die erzwungene Häuslichkeit, die endlosen Koch-Sessions seinerzeit auch | |
satt gehabt hatte. Der Song der Londoner Psychedelik-Pop-Band Vanishing | |
Twin, zu finden auf ihrem dritten Album „Ookii Gekkou“ (japanisch für | |
„Großes Mondlicht“), ist eine so vergnügliche polyrhythmische Mixtur aus | |
Instrumentengewusel, seltsamen Sounds und Latinbeats, dass die Küche als | |
sozialer Ort endgültig rehabilitiert scheint. | |
Das tolle Vorgängeralbum „The Age of Immunology“ (2019) stand noch hörbar | |
in der Tradition experimentierfreudiger Popbands wie Stereolab und | |
[1][Broadcast]. Deren sehr britische Herangehensweise an zeitgenössische | |
Psychedelik prägte auch den munteren Eklektizismus von Vanishing Twin. | |
Besonders vor dem [2][Hintergrund des Brexits], der 2019 schon ein | |
Schreckgespenst war, ließ er den Sound von Vanishing Twin geradezu | |
programmatisch international wirken, wie eine Ansage an die Welt da | |
draußen. Diesmal schafft sich die inzwischen zum Quartett geschrumpfte Band | |
ihre eigene Traumwelt zwischen Funk, Jazz, Horrorfilm-Geräuschkulissen, | |
Sixties-Pop und Elektronik. | |
## Alice im Kaninchenbau | |
Es ist Musik, in die man sich verlieren kann, wie Wunderland-Alice im | |
sprichwörtlichen Kaninchenbau. Die Atmosphäre von „Ookii Gekkou“ hat die | |
zum Titel passende somnambule Anmutung: Tag und Nacht verschwimmen, alles | |
existiert parallel, man darf sich treiben lassen. | |
Dabei gelingt der Sängerin, Komponistin und Multiinstrumentalistin Cathy | |
Lucas, Sususmu Mukai am Bass, der Schlagzeugerin Valentina Magaletti und | |
Phil MFU an Gitarre und Synthesizern der Spagat, einerseits versponnener | |
als auf dem Vorgänger zu klingen, dank ihrer neu entdeckten Funkiness, aber | |
zugleich auch muskulöser und breitbeiniger. | |
Wurden auf „The Age of Immunology“ die Improvisationen, auf denen die | |
Kompositionen basieren, noch so weit eingedampft, dass am Ende doch wieder | |
runde Popsongs standen, verzweigen sich einige Tracks diesmal tiefer in den | |
besagten Kaninchenbau. Verloren geht dabei bisweilen das große Ganze – was | |
als Metapher für den Lockdown, während dem das Album entstand, durchaus | |
passt, aber einen beim Zuhören bisweilen rauswirft, sofern man sich nicht | |
unter Kopfhörern komplett in die Musik versenkt. | |
## Kaleidoskopartige Songs | |
Zusammengehalten, das verdeutlichen insbesondere die Momente, in denen | |
Instrumentalpassagen allzu weit ins Experimentelle abdriften, werden | |
die kaleidoskopartigen Songs vor allem von Lucas’ luftig-leichtem Gesang. | |
Heimlicher Star der Songs ist jedoch die italienische Schlagzeugerin | |
Valentina Magaletti, die schon in verschiedensten Projekten von [3][Bat for | |
Lashes] bis zu Gruff Rhys mitmischte. | |
Magalettis eigene Band, das minimalistische Industrial-Jazz-Duo Tomaga, | |
fand letztes Jahr durch den Krebstod ihres Mitstreiters Tom Relleen ein | |
jähes Ende. „Ookii Gekkou“ klingt, als kanalisiere sie nun ihre gesamte | |
perkussive Kreativität in Vanishing Twin. Schon im Eröffnungstrack „Big | |
Moonlight (Ookii Gekkou)“ stellt sie ihr Können aus, wenn sie im groovy | |
5/4-Takt über ein gerade im 4/4-Takt gespieltes Glockenspiel spielt. | |
Jedes Stück ruft eine ganz eigene Stimmung auf, oft dreht die Atmosphäre | |
jeweils mittendrin um. „Phase One Million“ etwa lässt Afro-Funk auf einen | |
Disco-Vibe treffen und dabei Thaipop anklingen, in „The Lift“ treibt ein | |
warmer Bass die roboterartige Elektronik voran. | |
Mit dem ihnen eigenen Retrofuturismus verbinden Vanishing Twin wohlige | |
Nostalgie mit abgründiger Unheimlichkeit – und sind dabei auf einer so | |
breiten Zeitachse unterwegs, dass sie mit ihrem super eigenwilligen Stil | |
vollkommen zeitlos klingen. | |
29 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Stephanie Grimm | |
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