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# taz.de -- Edutainment als Körper-Theater: Wilde Party im Verdauungstrakt
> „Es war einmal … das Leben“: In Hannover wird aus dem 80er-Jahre
> Zeichentrick drogengesättigtes Thriller-Theater.
Bild: Raus aus der Komfortzone, rein in die Debatten: gesellschaftliche Transfo…
Verständnis kommt von Wiederholung, heißt es am Anfang – gleich mehrfach.
Dieser monoton vom Blatt gelesene Vortrag dümpelt vorsätzlich irgendwo
zwischen Stückeinführung und Lecture-Performance herum und macht einem das
Hirn weich für das, was da kommen soll: ein Trip längs durch den Körper und
quer durch Debatten, die sich verschoben haben, seit all das hier mal neu
war. „Es war einmal … das Leben“ steht im Schauspielhaus Hannover auf dem
Programm. Aber nach dem [1][1980er-Jahre-Zeichentrickspaß mit pädagogischem
Mehrwert] sieht hier nun wirklich so gar nichts aus.
Science-Fiction war das damals, mit rundlichen Fluggefährten und
ultramodernen Schulterpolstern auf den Uniformen der Gesundheitspolizei.
Albert Barillé selbst wiederum hat seine Zeichentrick- und Sachbuchreihe
als Western verstanden, in dem aufrechte weiße Blutkörperchen grässliche
Mikroben bekämpfen, um hilflose rote Blutkörperchen zu beschützen.
In Hannover inszeniert [2][Łukasz Twarkowski] statt Science-Fiction
und/oder Western einen drogenübersättigten Agententhriller, der seine
Widersprüchlichkeit bis zum Ende entschlossen verteidigt. Seit sie sich
medizintechnisch leichter führen lassen, sind die körperinneren Scharmützel
gegen kleine Wehwehchen nämlich eigentlich keine Geschichten mehr wert.
Hier heißt es: Alle gegen alle. Der Krebs will wachsen, die anderen Zellen
wollen ihre Ruhe haben – und die Botenstoffe machen irgendwann sowieso, was
sie wollen.
## Das Körperinnere als Club
Auf der von Fabien Lédé gestalteten Bühne erscheint das Körperinnere als
dunkler Club mit wabernden (und von Bogumił Misala lautgedrehten) Beats.
Was vom Geschehen überhaupt ersichtlich ist, wird oft nur wackelig und live
auf einen Riesenbildschirm projiziert, der mittig über der Bühne schwebt.
Die Akteur*innen selbst sind öfter mal weg – zum Beispiel auf dem
abgesenkten Bühnenboden in die Tiefe gefahren, um dort eine Party zu
feiern. Vermutlich. Vom Parkett bleibt nur der Blick auf ein Loch, in dem
es irgendwie wild flackert und in das von oben eine Nebelmaschine ihre
Schwaden herunterkübelt.
Es gibt jedenfalls ordentlich was zu gucken. Und wer sich auf das
installative Arrangement aus hektischem Video, dröhnendem Sound und etwas
Schauspiel einlässt, der bekommt hier tatsächlich eine intensive
Körpererfahrung geboten, die es knacken lässt im Hirn – und die Zeit zum
Drüber-Nachdenken gleich mitliefert. Wer da nicht reinkommt, hat allerdings
einen harten Abend vor sich: Über vier Stunden geht der Spaß, wobei sich
die Dramaturgie ihr eingangs verkündetes Credo von der Wiederholung als
Wurzel des Verstehens ganz offensichtlich sehr zu Herzen genommen hat.
## Schnell erzählter Plot – und viel Meta
Dabei ist der Plot im Grunde sehr schnell erzählt: Vater liegt mit Tumor im
Koma, sein Sohn ist der Boss einer gentechnischen Hexenküche, hat höchst
experimentelle (und nicht ganz legale) Therapien im Ärmel und denkt nun
über deren Einsatz nach. Alles andere ist meta.
Erinnerungen an früher flimmern über die Leinwand, eine
Filmproduktionsfirma arbeitet an dem Stoff, den wir auf der Bühne bereits
sehen, im Körperinneren beginnt der besagte Gaga-Thriller …. Vorerst
vergessen können Sie die Zeichentrick-Vorlage. Ausdrücklich vor kommt die
nur ganz kurz einmal, weil eine der Figuren [3][die Titelmelodie] als
Handyklingelton eingerichtet hat: „Spürst du es in dir? / Das schöne Leben
mit seiner Kraft / Fühl’ wie es pulsiert“, und so weiter.
Ob man will oder nicht: Was damals noch als maßvoll aufgepeppte
Bio-Nachhilfe durch das öffentlich-rechtliche Fernsehen geisterte, sieht
heute aus wie eine Werbekampagne der Pharmaindustrie. Vielleicht liegt es
am zwischenzeitlich entschlüsselten Genom, vielleicht am Steildrehen des
technischen Fortschritts, vielleicht haben uns die Impfgegner mit ihrem
Irrationalismus angesteckt – es ist egal. Über den gesunden Normkörper als
heiliges Dings lassen sich keine guten Geschichten mehr erzählen. Und es
leuchtet ein, heute das Unbehagen am medizinischen Komplex in den
Mittelpunkt zu rücken, auch wenn die [4][Alternativen] von Homöopathie bis
zum Untätig-verrecken-Lassen auch nichts besser sind.
## Die 80er sind vorbei
Twarkowskis bio-ethische Frage bleibt ohne Antwort, aber zumindest die
Eckpfeiler sind eingeschlagen: Über das Labor, das auf der Bühne als
fahrbarer Guckkasten kreist und Assoziationen an eine Raumstation weckt,
heißt es aus dem Off: „Das ist ein toller Ort, in dem Gesellschaft
transformiert wird“. Nicht Politik mache das, sondern Wissenschaft. Die
finden etwas heraus und danach verhalten die Menschen sich anders: Seit
Pasteur wäscht man sich die Hände, später fing man an, sich impfen zu
lassen – und bald schneidet man eben die Gendefekte aus der DNA.
Zu sich findet diese Debatte in einer kleinen Talkrunde, die in
verschiedenen Szenen etwa im Autoradio als Soundtrack läuft und dann auch
tatsächlich auf der Bühne stattfindet. Da ist der Ethiker als Angstmann
ohne Biss, die Gentechnikerin mit der aggressiven Rechthaberei
instrumenteller Vernunft und ein Biohacker, der zwar ein Idiot ist, aber
immerhin einen guten Kronzeugen dafür abgibt, was passiert, wenn die
Technologie in die falschen Hände gerät. Es ist wirklich lustig, Mathias
Max Herrmann dabei zuzusehen, wie er als Talkmaster die Plattitüden seiner
Gäste moderiert – und es ist traurig, dass die öffentliche Debatte
tatsächlich kein Stück weiter ist.
Die Zutaten für diesen Theaterabend sind jedenfalls toll. Und wenn jemand
den Mut hätte, ihn um mindestens eine Stunde zu kürzen, dann würde das auch
alles ganz wunderbar. Am Premierenabend allerdings ging es nicht auf, die
kurzen Textphasen in rauschhaften Clubszenen einsickern zu lassen, um sie
da wachsen zu lassen. Das überdominante Hintergrundrauschen verzettelt sich
in unklar platzierten Rückblenden, überlangen Monologe und
pseudo-technokritischen Irritationen da, wo alles nach Klärungsbedarf
schreit.
Und wie gesagt: Wiederholung, Wiederholung, Wiederholung. Nach der Pause
blieben am Premierenabend zahlreiche Plätze leer. Aber so ist es ja immer,
wenn man Berauschten zuschaut: Es ist eine Offenbarung für Mittrippende,
für alle anderen sind sie vor allem laut und unangenehm.
Unbedingt zu verteidigen ist Łukasz Twarkowski hingegen da, wo er sich der
elaborierten Diskussion verweigert und lautstark einfordert, die
Komfortzone nun endlich zu verlassen. Weltfremde Ethik bringt uns nicht
weiter, die denkfaule Rechthaberei der Technokrat*innen noch weniger. Es
gibt da schon eine Botschaft, die aus allen Facetten dieser Chaosnummer
schreit, und die ist wichtig: Die 80er sind vorbei – und es wird wirklich
Zeit, langsam mal weiterzumachen.
13 Mar 2019
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=zAb1BZ3HBLo
[2] https://www.schauspielhannover.de/index.php?m=&f=05_personendetail&…
[3] https://www.youtube.com/watch?v=Fw9auc7dKsA
[4] https://www.presseportal.de/pm/6561/4216199
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
## TAGS
Theater
80er Jahre
Naturwissenschaft
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Hedonismus
Deutsche Kultur
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Clubkultur
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