# taz.de -- Stand der Dinge im House: Durch die Nacht und zurück | |
> Michaelangelo Matos hat ein Buch zur House-Historie vorgelegt. Der | |
> aktuelle Stand ist zu hören auf Alben von Seven Davis Jr, Hunee und | |
> Paxton Fettel. | |
Bild: Seven Davis Jr sang früher in einem Gospelchor. | |
„Shifting Baselines“ wäre als Fachbegriff für House ziemlich naheliegend, | |
einem Dancefloorgenre, bei dem der Bass als Klangbasis maßgeblich die Musik | |
prägt. Ursprünglich stammt der Terminus aus der Sozialpsychologie, wo mit | |
„Shifting Baselines“ der Umstand beschrieben wird, dass sich menschliche | |
Wahrnehmung parallel zur Veränderung ihrer Umwelt verschiebt. | |
Was den Status quo von House in den USA anbelangt – dort entstand das Genre | |
Mitte der Achtziger in den afroamerikanischen Vierteln von Chicago und | |
Detroit –, kann nun im übertragenen Sinne von „Shifting Baselines“ | |
gesprochen werden. Denn mit „The Underground Is Massive“ hat Michaelangelo | |
Matos im angesehenen Verlag Harpers Collins die erste Geschichte von House | |
aus US-Sicht veröffentlicht. | |
Auf gut 400 Seiten trägt der New Yorker Musikjournalist darin die | |
verzweigten Entwicklungen wie Teile eines Puzzles zusammen, aus eigenen | |
Überlegungen und den Stimmen der von ihm interviewten beteiligten Künstler | |
und Musikschaffenden ergibt sich ein lebendiges, absolut gegenwärtiges Bild | |
der wichtigsten musikalischen Subkultur der letzten 30 Jahre. | |
„Dies ist eine Geschichte über die Entstehung einer Kultur, die überall auf | |
der Welt bedeutsam ist, außer da, wo sie entstand“, schreibt Matos im | |
Vorwort. Sein Buch wird ganz sicher dazu beitragen, dass sich in der | |
Rezeption von House in den USA etwas ändert. Chronologisch korrekt beginnt | |
er 1983 in der schwulen schwarzen Szene Chicagos, wo der Discosound der | |
Siebziger länger als anderswo in den Vereinigten Staaten überlebte. | |
Dank Unterstützung durch DJ-Pioniere wie Ron Hardy und Frankie Knuckles | |
erstand Disco als rhythmusgetriebene Maschinenmusik namens House wieder | |
auf, gepusht von Clubs wie dem „Warehouse“ (von dem sich der Name House | |
ableitet) und Ameisenlabels. Viele der Original-Interpreten, wie etwa die | |
Sängerin Screaming Rachel, sind heute vergessen. Umso wichtiger ist, dass | |
Matos sie in Erinnerung ruft. | |
## Kult um den DJ | |
Der Kult um den DJ wurde erst in Europa zum Massenphänomen, in | |
Großbritannien und Deutschland entwickelte sich aus Partyhedonismus eine | |
„Ravekultur“, während Rave in den USA der neunziger Jahre eine vornehmlich | |
weiße Außenseiterkultur blieb. Es mag paradox sein, aber die | |
transatlantischen Verbindungen wirken in den USA als Dynamo, schaffen es | |
jedoch nicht, die Infrastruktur von House zu verbessern. House, schreibt | |
Matos, funktioniert in den USA als Spiegelbild der komplexen | |
Rassenbeziehungen und gravierender regionaler Unterschiede. Umstände, die | |
in der europäischen Rezeption oftmals unter den Tisch fallen. | |
Gerade auch, weil „The Underground Is Massive“ mit der Grammy-Verleihung in | |
Los Angeles vom Januar 2014 endet: Damals wurde nicht etwa Frankie Knuckles | |
für sein Lebenswerk ausgezeichnet, sondern das französische House-Duo Daft | |
Punk für sein unter tatkräftiger US-Beteiligung entstandenes Album „Random | |
Access Memories“. Das zeigt schon, wie schwer es den Amerikanern fällt, die | |
Leistung der House-Produzenten anzuerkennen. | |
Es mag Daft Punk geben mit ihrem Disney-kompatiblen Roboterimage und | |
Mainstream-affine Elektronik-Künstler wie Skrillex, die | |
Hollywood-Soundtracks bestücken und Footballstadien mit Rave-Shows füllen. | |
Im Gegensatz dazu haben afroamerikanische House-Produzenten ohne | |
Transferleistungen aus Europa weiterhin nur eine schwache ökonomische | |
Stellung in den USA. Der afroamerikanische Autor und Musiker Jace Clayton | |
(DJ Rupture) macht für diese Schieflage stereotype Darstellungen von | |
schwarzen Männern als Gangstarapper verantwortlich, wie sie in den Medien | |
dominieren. „Außerhalb vom Mainstream“, sagt Clayton, „gibt es unzählige | |
schwarze Musiker, Dramaturgen oder Dichter, aber die Berichterstattung | |
stoppt jenseits von Beyoncé und Jay Z.“ | |
## Spirituelle Universen | |
Ersichtlich ist das auch an „Universes“, dem Debütalbum des kalifornischen | |
Künstlers Seven Davis Jr, das heute erscheint. Wohlgemerkt beim britischen | |
Label Ninja Tune, in den USA ist es nur als Import erhältlich. Dort ist | |
Seven Davis Jr kaum bekannt. Dabei ist sein Sounduniversum vielfach | |
kompatibel. Etwa mit der Broken-Beat-Szene seiner Heimatstadt Los Angeles | |
um Produzenten wie Flying Lotus oder Thundercat. Mit diesem hat Davis Jr | |
bereits zusammengearbeitet. Auch von der spirituellen Jazz-Renaissance | |
eines Kamasi Washington scheint er nicht allzu weit entfernt. Seven Davis | |
Jr – ein Verwandter von Sammy Davis Jr – hat einen Background als Sänger in | |
einem Gospelchor, und diese Spiritualität liegt wie eine Dunstglocke über | |
der Musik von „Universes“. | |
„Seven, why do you Humans fight?“ fragt eine Computerstimme in dem Track | |
„Fighters“. Davis’ Sandpapierstimme antwortet: „They come out swingin�… | |
Holding their weapons and guns / Do they even know, what they are fightin’ | |
anymore?“ Ein Track, der von der Polizeigewalt in den USA handelt. | |
„Jedesmal, wenn Polizisten einen Unschuldigen töten, töten sie ein Stück | |
weit sich selbst“, so Seven Davis Jr zum Motiv für den Text. | |
Seine Texte sind aktuell, wären aber bedeutungslos ohne seine fulminanten | |
Drumbeats und Basslines. Schon auf Tracks wie „One“ (2013) und dem | |
vergangenes Jahr erschienenen „Friends“, die auf vielen DJ-Bestenlisten | |
landeten, hatte er einen charakteristischen funky Shufflebeat, der | |
experimentierfreudig die Motorik des Krautrock zitierte und unwiderstehlich | |
nach vorn galoppiert. | |
„Universes“ ist eine Sammlung von zehn rhythmisch höchst variablen | |
Dance-Tracks, nie zu straight, immer auf den Punkt. Sparsam mit Hooks und | |
Melodien möbliert. Beiläufig verneigt sich Seven Davis Jr vor dem Groove | |
des P-Funk und dem Klanguniversum eines Prince. Dessen flamboyantes Image | |
in die Sphäre von House zu übertragen, ist ein alter Traum | |
afroamerikanischer Produzenten. Und Seven Davis Jr arbeitet mit Hochdruck | |
und europäischer Unterstützung an seiner Erfüllung. | |
Umgekehrt weisen zwei neue, in Europa erschienene Housealben in die USA. | |
Für den in Bochum aufgewachsenen Produzenten und DJ Hun Choi alias Hunee | |
war das Berlin der nuller Jahre der archimedische Punkt. Dort formt er in | |
den Clubs und Plattenläden seinen Stil und begann über den Klangkosmos von | |
House hinaus, die Welt von Bebop, Freejazz und Soundtracks zu entdecken. | |
Die Housepioniere Chicagos wurden von der ganzen Breite des musikalischen | |
Spektrums inspiriert, Hunee bleibt diesem inklusiven Ansatz treu. Nach | |
einem Aufenthalt in Los Angeles lebt er nun in Amsterdam, wo „Hunch Music“ | |
erschienen ist. Sein LP-Debüt funktioniert wie ein Jazzalbum. In seiner | |
sich langsam aufbauenden Spannung und den wiederkehrenden Melodien, die | |
sich im Gedächtnis einnisten wie Themesongs von Filmen, konzentriert „Hunch | |
Music“ die Stimmungen einer durchtanzten Nacht. | |
Hingegen ist „Everything Stays the Same“, das Debütalbum des dänischen | |
Produzenten Paxton Fettel eine Sammlung einzelner Tracks, die nicht | |
unbedingt zusammenpassen, aber für sich genommen trotzdem funktionieren. | |
Paxton Fettel, der eigentlich Nicholas Cunard heißt und sich nach einem | |
Computerspiel-Avatar benannt hat, kommt aus der umtriebigen Kopenhagener | |
Jazzszene. Man merkt das am Sound und der Struktur seiner Tracks: In den | |
Arrangements ist unendlich viel Platz, der Raum zwischen den Noten bleibt | |
frei. | |
So bringen die Drumbeats ihre Einzelteile zum Schwingen, und es genügen | |
etwa in dem Track „Future Adventures“ kurz angespielte Akkorde eines | |
Fender-Rhodes-Pianos, und Paxton Fettels Definition von House wirft Perlen. | |
House, das zeigt Paxton Fettel, hat gerade eine produktive Phase. | |
„Everything Stays the Same“ ist eine schlimme Vorstellung. In Wahrheit | |
weist House musikalisch nach wie vor in die Zukunft. Beständig ist einzig | |
sein Wandel. | |
24 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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