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# taz.de -- Elektronikfestival „Unsound“ in Krakau: Geschichte tanzen
> Die Genres verflüssigen sich: Das hervorragend kuratierte und praxisnahe
> Elektronikfestival „Unsound“ in Krakau.
Bild: Kode9 spielte ein Set aus Südstaaten-HipHop, Grime, Dubstep und Footwork.
War er es oder war er es nicht? Am Donnerstag hallen melancholische
Synthieflächen durch die alte Salzmine Wieliczka in der Nähe von Krakau.
Darunter ertönt ein dumpfer Breakbeat und eine in Reverb getränkte und
ihrer Natürlichkeit beraubte Frauenstimme. Es sind die Klangsignaturen des
Dubstep-Producers Burial. Noch nie ist er live aufgetreten, noch hat er
jemals ein DJ-Set gespielt. Und jetzt steht ein Unbekannter mit schwarzem
Hoodie und Laptop auf der Bühne und droppt Samples von alten Burial-Platten
und neue, unbekannte Stücke. Nach 30 Minuten bricht das Set plötzlich ab –
die Bühne bleibt schwarz, dann dröhnt ein Subbass durch das Gewölbe, der
bald von einer Gitarre begleitet wird.
Auf der Bühne stehen der Wiener Experimentalgitarrist Christian Fennesz und
der britische Dub-Produzent Kevin Martin. Die gletscherhafte Schönheit
vonFennesz’Gitarre trifft auf Bassschluchten von Martins Mischpult und
werden immer wieder von verhallten Vocals durchbrochen. Mit „Surprise“
haben die Macher des Festivals „Unsound“ in Krakau die diesjährige Auflage
überschrieben.
Bis zuletzt sind einige Slots im Programm geschwärzt gewesen, darunter auch
der Auftritt des Enigmas im Kapuzenpulli. Seit 2003 bringt das Festival die
Avantgarde aus elektronischer Musik, freier Improvisation und Avant-Rock
nach Krakau. Organisator Mat Schulz war von der Musik des Ostblocks so
begeistert, dass er einfach hiergeblieben ist. Heute zeigt das
„Unsound“-Festival, was passiert, wenn man Pop als Kultur und nicht als
Teil von Stadtmarketing und Wirtschaftsförderung betrachtet.
Anstelle eines Energy-Drink-Herstellers sind die öffentliche
Kulturförderung und der lokale Trinkwasserlieferant die Hauptsponsoren. Auf
den Podien sitzen keine Kreativwirtschaftsapologeten, sondern Musiker,
Labelmacher und Journalisten, die sich über praxisnahe Themen unterhalten.
In ihren Debatten haben sich die einstigen Oppositionen „Underground und
Mainstream“ längst angenähert. Man redet über die gleichen Dinge – die
Aneignung afroamerikanischer Popgeschichte etwa. Raphael Roginski, ein
polnischer Jazzmusiker jüdischer Abstammung, hat sich gerade dem Erbe von
Saxofonist John Coltrane und dem Harlem-Renaissance-Dichter Langston Hughes
gewidmet und das Ergebnis jüngst veröffentlicht.
Er sitzt neben der US-Jazzmusikerin Matana Roberts, selbst Saxofonistin,
die mit ihrer „Coin Coin“-Trilogie an einer eigenen Version
afroamerikanischer Geschichte arbeitet (siehe auch taz vom 19. Oktober).
Roginski zieht Vergleiche zwischen den diasporischen Existenzen und fragt
Roberts, wie sie zwischen Hommage und Aneignung unterscheiden würde.
„Historisches Wissen und Kontext“, entgegnet diese akademisch knapp.
## Behaarte Brust, kurzes Kleid
Roberts hatte am Mittwochabend ein Konzert im Tempel der jüdischen Gemeinde
gespielt. Über Tapeloops und Samples aus der afroamerikanischen
Kulturgeschichte improvisiert sie mit ihrem Saxofon lange, gedehnte
Bluesmuster und singt dazu selbst geschriebene Gospel-Strophen.
Autobiografie und Sozialgeschichte werden zu einer Collage, bei der schnell
unklar wird, wo das Persönliche aufhört und das Politische beginnt.
Der Future-R&B-Producer Angel-Ho aus Südafrika beantwortete die Frage am
nächsten Tag auf ganz eigene Weise. „Ich habe lieber Janet Jackson gehört�…
entgegnete er einer Frage aus dem Publikum, die das Wissen des Musikers
über frühe Industrial-Musik nachforschen wollte. Angel-Ho und die
afrobelgische Musikerin Nkisi sind Mitglieder des Kollektivs NON-Records,
das sich der „De-Kolonisierung von Dancefloor“ verschrieben hat. „Ich hat…
als Afrobelgierin das Gefühl, nicht existent zu sein“, erklärt Nkisi, die
sich nach einer kongolesischen Figur benannt hat, die mit den Toten
kommuniziert.
Bei ihrem Auftritt am Donnerstagabend kommunizierte Nkisi ihre Ideen aber
zu den Lebenden. Bei ihrem DJ-Set mischte sie Hardstyle mit kongolesischen
Polyrhythmen, dazu imitierte sie die Samples von Gabba undDrum’n’Bassper
Stimmverfremdung. Angel-Ho dagegen changierte bei seinem Liveauftritt
R&B-Beats mit Noise und Samples aus der Voguing-Kultur und schickte alles
durch übersteuerte Halleeffekte. Dazu steht er mit hüfthohen
Schnürstiefeln, behaarter Brust und kurzem Kleid auf der Bühne. NON Records
aktualisieren die idealisierte Geschichtsschreibung von elektronischer
Musik als queeres oder ethnisches Identitätsexperiment – und sie sind nicht
die Einzigen.
Visionist verschob die aggressiven Lo-Fi-Beats von Grime dorthin, wo ihre
Straßenherkunft nur widerhallt und zu einer Fantasie von China als Hort der
Zukunft mutiert. Dazu trägt Visionist ein enganliegendes braunes Top und
zitiert so den hypermaskulinen Trap-Rap – ohne sich dabei nur einmal von
seinem Laptop wegzubewegen.
## Kuratiert wird nach dem passenden Kontrast
In Krakau ist das Experimentieren nicht nur auf die „experimentelle“ Musik
beschränkt. Genres verflüssigen sich, kuratiert wird nach dem passenden
Kontrast. Virtuoses kosmisches Synthesizergegniedel von
Nine-Inch-Nails-Keyboarder Alessandro Cortini steht neben technisch
exaltiertem Death Metal, mühsam zusammengetragenes DJ-Wissen neben
akademischen Soundästhetiken.
Am Freitagabend spielte der Kölner Elektronik-Musiker Markus Schmickler im
Hotel Forum, einem sozialistischen Beton-Prachtbau aus den 1970ern, ein
abstraktes Konzert aus Sinustönen und Shepard-Risset-Glissandi. Einen Raum
weiter bewegte sich Hyperdub-Labelchef Kode 9 durch ein Set aus
Südstaaten-HipHop, Grime, Dubstep und Footwork und führte all diese
disparaten Sounds zu einem globalen Bassmusik-Kontinuum zusammen. Er endet
sein Set mit einem Footwork-Stück, dieser rasend schnellen House-Spielart
aus Chicago, bevor der Footwork-Pionier RP Boo hinter sein Serato tritt.
„Ich nehme den Club mit in die Geschichte von Footwork“, hatte er vorher im
Interview angekündigt.
Sein Gig ist eine Geschichtsstunde in der Dance-Musik der Chicagoer South
Side. RP Boo wird von zwei polnischen Tänzern flankiert, sein Set reicht
von den Lo-Fi-Anfängen des Genres in den mittleren Neunzigern bis zu den
Hochglanz-Produktionen der frühen zehner Jahre, als Footwork dank DJ Rashad
die Dancefloors der Welt eroberte – auch in Krakau, wo „RP Boooooo“ nach
einer Stunde mit Handtuch über dem Kopf sein Set beendet. Geschichte wird
auf dem Dancefloor geschrieben und dort auch vermittelt.
Am Abschlussabend spielte die DJ The Black Madonna aus Chicago ein DJ-Set,
in dem sie die lange Geschichte von House und seinen Körperpolitiken immer
wieder hervorholt und in der Improvisation neu ordnet. So nah war House dem
Jazz schon lange nicht mehr. So war The Black Madonna ein passender
Abschluss für „Unsound“. Das Festival in Krakau ist einer der wenigen Orte,
wo der balkanisierte Underground mühelos zueinander findet.
20 Oct 2015
## AUTOREN
Christian Werthschulte
## TAGS
elektronische Musik
Festival
Subkultur
House
Techno
House
London
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