| # taz.de -- Labeljubiläum von Hyperdub: Aufwachen zum Future Shock | |
| > Sozialer Zusammenhang und ästhetisches Projekt: Hyperdub veröffentlicht | |
| > nur Platten von Freunden und wird so zum besten Label der Welt. | |
| Bild: Ausnahme-Produzent mit Blick fürs Unterholz: Scratcha DVA. | |
| Keine Institution der Musikindustrie wird so sehr in Frage gestellt wie das | |
| Plattenlabel. Überflüssig seien diese Firmen heute, heißt es oft, können | |
| doch Künstler ihre Promotion und ihren Vertrieb im Internet selbst | |
| übernehmen. Wer so argumentiert vergisst, dass Labels, egal ob sie Pop, | |
| Rock oder elektronische Musik veröffentlichen, niemals nur Mittel zum | |
| ökonomischen Zweck sind. Sie stellen etwas anderes her: eine Ästhetik und | |
| einen sozialen Zusammenhang. Ein solches Beispiel ist etwa die kuratorische | |
| Arbeit der Londoner Plattform Hyperdub. | |
| Gegründet hat sie der DJ und Produzent Steve Goodman, als er 2004 eine Maxi | |
| unter seinem Pseudonym Kode 9 herausbringen wollte. „Future Shock“, das | |
| Aufgewecktwerden durch eine Idee von Zukunft. Der Begriff fällt oft im | |
| Gespräch mit dem 41-Jährigen. Goodman hat an der Universität Warwick | |
| Philosophie studiert. Dort war er gemeinsam mit dem Autor Mark Fisher Teil | |
| der CCRU, der Cybernetic Culture Research Unit, die in den beschleunigten | |
| Breakbeats von Jungle ein ästhetisches Gegengewicht zum nostalgischen | |
| Britpop der mittleren neunziger Jahre erkannte. | |
| Inzwischen ist Hyperdub eines der wenigen Elektroniklabels, das von Fans | |
| und Produzenten gleichermaßen geschätzt wird. „Ich bin ein Fan von allem, | |
| was Hyperdub herausbringt, das war schon, bevor ich selbst für das Label | |
| aufgenommen habe“, erzählt Ikonika, wie sich die junge Londoner Musikerin | |
| Sara Abdel-Hamid nennt, die seit 2008 auf Hyperdub veröffentlicht. | |
| ## Integrationsfigur Burial | |
| Die Geschichte des Labels teilt sich in mehrere Phasen ein. Zunächst | |
| tauchte Hyperdub 2004 an den Rändern der Londoner Dubstep-Szene auf und | |
| irritierte von dort mit Tracks, die die Tanzfläche durch besonders schwere | |
| Bässe oder Anime-Futurismus aufmischten. Bekanntheit erlangt Hyperdub aber, | |
| als es die ersten Tracks eines Musikers veröffentlichte, der als Inbegriff | |
| des Sounds der nuller Jahre gilt: Burial. „Zuerst habe ich seine Musik im | |
| Londoner Piratensender Rinse FM wahrgenommen“, erzählt Scratcha DVA alias | |
| Leon Smart, der jeden Monat die Hyperdub-Radioshow beim einflussreichen | |
| Sender Rinse FM moderiert und inzwischen selbst Platten bei Hyperdub | |
| veröffentlicht. „Von da an lief Burial im Kopfhörer, seine Musik wurde zum | |
| festen Bestandteil der Radioshow.“ | |
| Bis heute ist Burial der populärste Hyperdub-Künstler. Dabei war es Zufall, | |
| dass seine Musik überhaupt veröffentlicht wurde. „Er hatte mir | |
| selbstgebrannte CDs geschickt und Briefe dazu geschrieben, als Hyperdub | |
| noch ein Webzine war“, erzählt Steve Goodman. „Seine Musik hatte einen | |
| Nachhall, noch Jahre später funktionierten die Tracks. Und so habe ich | |
| beschlossen, sie zu veröffentlichen.“ Der Rest ist Geschichte. 2008 wird | |
| Burial für den Mercury Music Prize nominiert. Die Boulevard-Zeitung The Sun | |
| will den anonymen Produzenten deshalb unbedingt durch Fotos enttarnen. | |
| Vergangenes Jahre veröffentlichte Burial ein Selbstporträt und eine EP, auf | |
| der er die Rede einer Transgender-Regisseurin gegen Mobbing sampelt. | |
| „Burial ist ein Freund“, beschreibt Steve Goodman die Beziehung der beiden. | |
| „Wenn er Musik veröffentlichen will, sind wir dafür offen. Wir üben auf ihn | |
| keinerlei Druck aus.“ Verändert hat sich diese Methode seit den frühen | |
| Tagen des Labels kaum. Noch immer finden die Künstler zumeist über | |
| Mundpropaganda den Weg zu Hyperdub. „Wir veröffentlichen eigentlich nur | |
| Musik von Freunden und Freunden von Freunden“, erläutert Goodman. Und noch | |
| immer steht das Label an der gleichen Stelle: Vom Rand der Tanzfläche nimmt | |
| es den Sound in den Clubs wahr, den es deshalb umso besser aufmischen kann. | |
| „Als DJ legt Steve auf, was er für richtig hält, egal, ob es dem Publikum | |
| gefällt oder nicht“, erklärt Scratcha DVA. Seit 2010 erscheint seine Musik | |
| auf Hyperdub. Damals hatte das Label gerade begonnen, von den Mutationen | |
| der Londoner Bassmusikszene nach Dubstep angesteckt zu werden. Und das | |
| bedeutete zuallererst: UK-Funky, diese in Deutschland kaum bekannte | |
| House-Spielart, die über den Umweg Nigeria mittlerweile auch aufs | |
| europäische Festland geschwappt ist. | |
| ## Afro-psychedelische Schule | |
| Nach den Halftime-Beats von Dubstep hatte London den Funk wiederentdeckt. | |
| Das galt auch für Hyperdub. Ikonika garnierte ihre Tracks mit | |
| 16-Bit-Videospielmelodien und Scratcha DVA reduzierte und verkomplizierte | |
| die Underground-House-Rhythmen der Londoner Bassmusikszene, indem er sie | |
| mit modulierten Synthesizern der afro-psychedelischen Schule kreuzte. „Der | |
| Funk hat mich zu Hyperdub gebracht“, erzählt Scratcha DVA, dessen Album | |
| „Pretty Ugly“ (2012) als weitgehend übersehenes Meisterwerk des britischen | |
| Afro-Futurismus gilt. | |
| Heute ist der Danceunderground in London nicht mehr der wichtigste | |
| Katalysator für den Labelsound von Hyperdub. „Musik aus London ist gerade | |
| nicht so spannend. Es gibt einige fähige Grime-Produzenten, darunter etwa | |
| Mumdance, aber leider viel zu viel langweiligen House und Techno.“ Auch | |
| Ikonika blickt im Moment über den Tellerrand ihrer Heimatstadt und findet | |
| anderswo größere Inspiration: „Mir sagen die Produktionen aus den USA | |
| momentan viel mehr zu.“ | |
| Man merkt es auch dem Labelsound an. Die neuen Platten kommen fast | |
| ausschließlich von Künstlern aus Übersee. Die Kanadierin Jessy Lanza | |
| produziert unterkühlten synthetischen R&B. Die aus New York stammende und | |
| mittlerweile in Berlin lebende Produzentin Laurel Halo hat sich nach der | |
| Abstraktion von Popsongs mittlerweile der Abstraktion von Techno | |
| angenommen. Und die kuwaitische Künstlerin Fatima Al-Quadiri, der letzte | |
| Neuzugang, wohnt in New York, wo sie ein elektronisches Konzeptalbum über | |
| das „imaginäre China“ aufgenommen hat. | |
| ## Wichtigste Adresse für Footwork | |
| Kein US-Popsound hatte in den letzten Jahren jedoch so einen großen | |
| Einfluss auf die Ästhetik von Hyperdub wie Footwork, ein rasend schnelles | |
| House-Subgenre aus Chicago. „Hyperdub ist inzwischen das wichtigste Label | |
| für Footwork“, erklärt Scratcha DVA. Footwork ist ein auf Sequenzern | |
| programmierter Adrenalinrausch, bei dem Drumcomputer und Tänzer bei | |
| atemberaubenden 160 bpm zur Mensch-Maschine fusionieren. „Ich liebe | |
| Footwork, es ist Clubmusik, die straight ist, nur für den Dancefloor und | |
| die Tänzer gemacht“, meint eine enthusiastische Ikonika. | |
| Wieder war es Zufall, dass Footwork-Tracks ihren Weg auf Hyperdub fanden. | |
| „Ich war zuerst nur Fan“, erzählt Steve Goodman. Auf einer Party wurde er | |
| von dem Produzenten Mike Paradinas angesprochen, der mit der „Bangs & | |
| Works“-Compilation auf seinem eigenen Label Planet Mu gerade Footwork in | |
| Europa bekannt gemacht hatte. „Mike meinte, die Leute würden ihn für | |
| verrückt halten, weil er Footwork-Musik veröffentlicht. Ich sollte das doch | |
| auch tun! Gesagt, getan.“ | |
| Seit 2013 veröffentlicht Hyperdub Tracks des Chicagoer Produzenten DJ | |
| Rashad. Rashad, der am 26. April vermutlich an den Folgen eines | |
| Blutgerinnsels gestorben ist, steht für Goodman in einer Reihe mit Miles | |
| Davis, Frankie Knuckles und J Dilla. „Es ist jemand, der durch seine Musik | |
| weiterleben wird“, beschreibt Goodman seinen DJ-Kollegen. „Rashad | |
| verwandelte alte Soulsamples in verschachtelte Footwork-Stücke und verlieh | |
| ihnen so die Tiefe.“ | |
| ## Chicagos inoffizieller Botschafter | |
| Rashad war ein Botschafter für Footwork, er konnte diesen Sound einem | |
| großen Publikum nahebringen. Auch nach seinem Tod bringt Hyperdub bislang | |
| unveröffentlichte Stücke von ihm heraus – der Erlös geht an Rashads Familie | |
| und seinen Sohn. Es ist eine Geste der Freundschaft, die dadurch gewachsen | |
| ist, dass Rashad und Goodman eine Vorstellung von Musik geteilt haben. | |
| „Footwork ist momentan die einzige Musik, bei der ich einen Future Shock | |
| verspüre“, sagt Goodman. | |
| Und Hyperdub erzeugt mit seiner Musik noch immer diesen „Future Shock“. | |
| Auch wenn nicht mehr so klar erkennbar ist, wo genau sich die Zukunft | |
| abspielen wird, wie man an einer vierteiligen Compilation-Reihe erkennen | |
| kann, die das Label nun zum zehnjährigen Jubiläum veröffentlicht. Die erste | |
| Koppelung ist eine Leistungsschau aller aktueller Hyperdub-Künstler, sie | |
| präsentieren ihre Dancemusic-Stilhybriden. Der Grime-MC Flowdan rappt über | |
| einem Trap-Beat, Goodman selbst hat einen Footwork-Track über das | |
| „imaginäre China“ beigesteuert. Auf der zweiten Compilation, die im Juli | |
| erscheint, stellt das Label dann die Songwriter-Fähigkeiten seiner Künstler | |
| in den Vordergrund | |
| „Mein Job ist es, die verschiedenen Strömungen auf dem Label | |
| zusammenzubringen“, erzählt Goodman. „Dabei kommt es zu einer Menge | |
| merkwürdiger, unbeabsichtigter Überschneidungen.“ | |
| Hyperdub gelingt es so fast im Vorbeigehen ein Gefüge herzustellen, dass | |
| nicht nur ästhetisch, sondern auch sozial funktioniert. „Ich habe das | |
| Gefühl, Steve versteht, wohin ich mich als Produzentin und DJ entwickeln | |
| möchte“, sagt Ikonika, die Goodman leicht spöttisch als „Onkel“ bezeich… | |
| „Hyperdub ist ein Label, das für künstlerische Freiheit steht“, fasst | |
| Scratcha DVA zusammen. „Als Label erwartet es von mir, dass ich mein Ding | |
| durchziehe. Genau das erwarte ich auch von Hyperdub als Label.“ | |
| 13 Jun 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Werthschulte | |
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