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# taz.de -- Neues R&B-Album von Jessy Lanza: Gefühlsbetont unaufdringlich
> Die kanadische R&B-Sängerin Jessy Lanza veröffentlicht mit „All the Time�…
> ein krisenfestes Album. Über Beobachtungen erschließt sie sich die Welt.
Bild: Venus aus Kanada? Jessy Lanza spielt gern mit Künstlichkeit
Ein leerer Parkplatz vor einem Supermarkt. Jessy Lanza sitzt im Auto,
hinter ihr geht die Sonne unter. Ein Foto aus dem Coronalockdown bildet das
Cover des neuen Albums der R&B-Sängerin aus Hamilton/Kanada. Mit Ausbruch
der Pandemie hat sich die 34-Jährige ins Auto gesetzt und ist von New York
bis an die Westküste nach Kalifornien gefahren.
Eigentlich hätte Jessy Lanza in diesen Tagen auf Tour in Europa sein
sollen. Jetzt aber sitzt sie an ihrem Laptop in einem Holzhaus in der Bay
Area. „Ich befinde mich in einer Vorort-Blase“, erzählt sie im Zoom-Call.
Die Blase ist die Heimat ihres Partners. Seinetwegen hat sie Kanada 2017
verlassen und ging nach New York.
Hamilton ist eine mittelgroße Industriestadt in Kanada am Ufer des Lake
Ontario. Eine dieser kanadischen Städte ohne Gesicht. Wegen günstiger
Steuern muss Hamilton oft als Kulisse für Hollywood-Produktionen herhalten.
Hier ist Jessy Lanza als Tochter zweier Musiker*innen aufgewachsen, ihr
Vater war Lehrer und hat auf Techno-Partys die Lautsprecher aufgestellt.
„In Hamilton war alles bequem. Ich hatte ein eigenes Studio, meine Familie
war in der Nähe“, erzählt sie. „‚All the Time‘ handelt als Album davo…
einsam und isoliert ich mich gefühlt habe und Heimweh hatte, obwohl ich
jenseits der 30 bin.“
In Hamilton hat [1][Jessy Lanza ihre ersten beiden Alben] aufgenommen:
Elegante R&B-Songs, getränkt in Melancholie und Synthesizerflächen und
durchsetzt von Miniaturen, die den Schmerz im Alltäglichen so beschreiben,
dass er nicht zur Konfektionsware verkommt. Jessy Lanza macht Musik, die
dort entsteht, wo man die Codes von Pop kennt, aber weit entfernt von den
Szenen ist, in denen diese Codes in Kapital umgewandelt werden. Musik, die
deshalb mit Formen und Gefühlen experimentieren kann, weil man mit ihr
nichts beweisen muss.
## Sie ist ein Nerd
Denn auch wenn sie offen über ihre Gefühle singt, in Jessy Lanza steckt ein
Nerd: „Mich inspirieren Synthesizer und wie andere Künstler damit an ihren
Stücken feilen.“ Einer dieser Musiker ist Jeremy Greenspan vom kanadischen
Synthpop-Duo Junior Boys. Gemeinsam arbeiten sie an den Stücken, die unter
Lanzas Namen erscheinen. Bislang haben sie in Hamilton aufgenommen, nach
ihrem Umzug in die USA werden Dateien per Mail ausgetauscht.
In New York hat Lanza neuen Anschluss beim fabulösen House-Label House of
Altr gefunden, auf dem Produzenten wie AceMo und DJ Swisha die
Unbedarftheit früher House- und Breakbeat-Tracks wiederaufleben lassen. „Zu
sehen, wie effizient AceMo arbeitet, war wichtig für mich. Ich habe
gelernt, Ideen schneller beiseitezulegen, wenn sie nicht für mich
funktionieren“, erzählt Lanza.
Auf „All the Time“ finden sich viele Spuren der neuen Bezugsgruppe. Im Song
„Face“ zerhäckselt sie ein Vocalsample zu euphorischen Kieksern, in den
treibenden Claps hallen verschwitzte Ballroom-Partys nach, und eine warme
Synthesizerfläche liefert den Soundtrack zum Comedown auf dem Weg nach
Hause. Über diesen Reminiszenzen an Clubgeschichte beschreibt Jessy Lanza
den entfremdeten Alltag in der New Yorker U-Bahn.
„Alle Fahrgäste sehen angepisst aus“, sagt sie. „Ich habe mir vorgestell…
was sie denken. Aber es waren meine eigenen Projektionen, weil mich die
Fahrten mit der U-Bahn aggressiv gemacht haben. Eigentlich wäre ich lieber
neugierig.“
## Vorliebe für aufwendige Produktionen der achtziger Jahre
Die Ambivalenz von Emotionen motiviere sie dazu, überhaupt Songs zu
komponieren, so Jessy Lanza. „Wenn ich mich emotional verloren fühle, mache
ich Musik an. Meine eigenen Songs sind der Versuch, diese Gefühle noch
einmal durchzuarbeiten.“ Dabei ist sie schlau genug zu wissen, dass sich
auf der anderen Seite ihrer Objektbeziehung ein Kunstprodukt befindet:
aufwendig produzierte Songs des 80er-Jahre-R&B aus der Feder der S.O.S.
Band oder von Janet Jackson.
„Ich wollte immer wie Janet Jackson singen“, gesteht Lanza. „Gefühlsbeto…
und unaufdringlich zugleich.“ Um dies zu erreichen, denaturalisiert die
kanadische Künstlerin ihre Stimme.
Übermenschlich wirkende Gesangsarrangements von R&B-Sängerinnen entstehen
in aufwendiger Studioarbeit. [2][Stars wie Rihanna] singen Dutzende Takes
ihrer Songs ein, aus denen dann in aufwendiger Schnippelarbeit mit
Audiosoftware die fertige Gesangsspur destilliert wird. Das Endprodukt, ein
chartstauglicher R&B-Song, bezieht seine emotionale Glaubwürdigkeit aus
seiner Eindeutigkeit: Man fühlt, was man hört. Wenn Rihanna verführerisch
klingen will, haucht sie, beim Singen über ihre Liebestrunkenheit schraubt
sich ihre Stimme in die Höhe.
Jessy Lanza klamüsert ihrerseits solche sorgfältig montierten
Vokalperformances wieder auseinander. Auf „Ice Creamy“ verfremdet sie ihre
Stimme mit Effekten: Mal piepst sie wie Mickymaus, ein anderes Mal dehnt
sie ihren Gesang zur Zeitlupe. „Ich habe Musik immer benutzt, um mich zu
verstecken“, sagt sie. „Und hinter Effekten kann ich mich gut verstecken.“
## Songs über psychische Probleme
In „Ice Creamy“ erzählt Lanza eine persönliche Geschichte: „Auf Tour ha…
ich diese Pillen genommen, die mir beim Schlafen geholfen haben. Ich war
wirklich ziemlich abhängig von ihnen. Ich habe dann einen Song darüber
geschrieben, der wie ein Liebeslied klingt. Aber eigentlich handelt er von
diesen Tabletten, und dafür schäme ich mich.“ Es ist eine Geschichte,
exemplarisch für viele Musiker*innen, die psychische Probleme haben.
„Ich habe das getan, was ich immer tun wollte: Musik spielen. Und trotzdem
war ich unglücklich. Schlaftabletten waren für mich wie Percocet“, sagt
Lanza. Percocet ist das Schmerzmittel of choice für viele US-Amerikaner.
Sein Hersteller, der [3][Arzneimittelkonzern Sackler], ist ins Gerede
gekommen, weil er mit dem verdienten Geld als Kunstförderer agiert.
In der Kunstszene sind seit Längerem Boykottaufrufe laut geworden, weil
Percocet süchtig macht. Rund ein Viertel seiner Konsumenten werden davon
abhängig, sein Wirkstoff Oxycodon ist eine der häufigsten Todesursachen bei
Medikamentenmissbrauch.
Wie alle großen Popmusiker*innen erzählt Jessy Lanza diese persönliche
Episode im Modus des Nachempfindbarmachens: als kleine Geschichte, in der
sich eine größere versteckt. Auch auf „Lick in Heaven“, der aktuellen
Single und dem upliftendsten Song des Albums, benutzt sie diesen
erzählerischen Kniff. Über einem verträumten E-Piano und einem trockenen
Bass singt sie mit verhallter Stimme „Once I’m spinning, I can’t stop
spinning“: Wenn ich einmal durchdrehe, kann ich damit nicht aufhören.
„Der Song geht auf einen Streit zurück. Ich hatte etwas Gemeines gesagt und
musste immer weiter eskalieren“, bekennt Lanza. Sie erkannte darin ein
Muster: bei sich selbst, bei ihrem Vater („so ein Arsch“), bei Passanten in
der U-Bahn, auf Twitter: „Es fällt den meisten Leuten wahnsinnig schwer,
sich zu entschuldigen.“
## Sorge um Frauen in der Coronapandemie
Im Videoclip zu ihrem Song „Lick in Heaven“ steht sie in den Kulissen einer
Talkshow und singt über Möglichkeiten der Aggressionsbewältigung, das
überwiegend weiße Studiopublikum beginnt dazu zu tanzen. „Diese Shows
repräsentieren etwas, was es nicht gibt: glänzend, übermäßig optimistisch …
ein sehr konventionelles Bild von weiblichen Verhaltensmustern“, erzählt
die Sängerin.
Immer wieder spricht Lanza über die Erwartungen, die an sie als Künstlerin
herangetragen werden. „Die Öffentlichkeit ist größtenteils misogyn“, sag…
sie vor vier Jahren in einem Interview. Damals war sie es leid, dass ihr
nicht zugetraut wurde, ihre Songs selbst zu produzieren. Hat sich das
gebessert?
„Ja“, sagt Lanza. Bookingagenturen wie das Discwoman-Kollektiv hätten viel
dafür getan, Sexismus in der elektronischen Musikszene einzudämmen. „Aber
auch das betrifft nur eine kleine Blase“, sagt sie. „Ich mache mir gerade
mehr Sorgen darüber, dass Frauen in der Coronapandemie alle Wut und
Aggression abbekommen.“ In einer winzigen Beobachtung entdeckt sie eine
ganze Welt. Jetzt muss diese nur noch die Songs von Jessy Lanza entdecken.
20 Jul 2020
## LINKS
[1] /RB-Album-von-Jessy-Lanza/!5313852
[2] /Neues-von-Beyonce-Rihanna--Kanye/!5272555
[3] /Fotografin-ueber-US-Opioidkrise/!5605942
## AUTOREN
Christian Werthschulte
## TAGS
Kanada
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