# taz.de -- Neues Elektronikalbum von Jessy Lanza: Dancefloor mit doppeltem Bod… | |
> Die Musik der kanadischen Elektronikproduzentin Jessy Lanza ist | |
> ambivalent, aber sexy. Ihr Album „Love Hallucination“ ist ihr bisher | |
> persönlichstes. | |
Bild: In einer perfekten Popwelt müsste die Musikerin Jessy Lanza viel bekannt… | |
Auf dem Cover ihres neuen Albums „Love Hallucination“ ist die kanadische | |
Elektronikproduzentin Jessy Lanza halb verdeckt hinter einer Palmenkrone zu | |
sehen. Den Blick in die Ferne gerichtet, steht sie auf einem gelben Gerüst, | |
im Hintergrund blauer Himmel und eine bewaldete Hügelkette. | |
Der Kontrast zwischen der als paradiesisch aufgeladenen, aber nicht weiter | |
definierten Landschaft und ihrer sichtbaren Inszenierung in Form einer | |
Metallkonstruktion ist ein passendes Bild für jenen Stil, den Jessy Lanza | |
in den letzten Jahren zur Perfektion gebracht hat. [1][Ihre geschliffenen, | |
von House, R&B und Soul beeinflussten Popsongs] drängen schnurstracks auf | |
die Tanzfläche, offenbaren aber beim genaueren Hinhören oft eine zuckersüß | |
verpackte Abgründigkeit. | |
Für „Love Hallucination“, ihr inzwischen viertes Album, tritt Lanza als | |
handwerklich versierte Produzentin auf den Plan, die scheinbar mühelos Hook | |
an Hook reiht und dabei kleine Störelemente herumstehen lässt, wie | |
Baugerüste im Tropenparadies. Der Auftakttrack, „Don’t Leave Me Now“, | |
zugleich sommerfestivaltauglich als Vorab-Single ausgekoppelt, steht | |
stellvertretend für diese Ambivalenz. | |
„Don’t leave, don’t leave me now“ fleht ein zerlegtes Stimmen-Sample ü… | |
einem hektischen Beat, ehe Lanza in der ersten Strophe Bilder von Autos und | |
Straßen heraufbeschwört, die so gar nicht zum soulful-flirtenden Refrain | |
passen wollen. | |
Im Song geht es um die Angst, von einem Auto überfahren zu werden; dass | |
eine Nahtoderfahrung verarbeitet wird, hat auf die gutgelaunte Vitalität | |
der Musik aber keine Auswirkung. Der scheinbare Gegensatz zwischen lasziver | |
Intonation und inhaltlichem Unbehagen ist ein Markenzeichen Lanzas und wohl | |
einer der Gründe für ihren Status als ewiger Kritikerliebling, der in einer | |
perfekten Popwelt viel bekannter sein müsste. | |
## Zwischen Unbeholfenheit und Ekstase schwankend | |
Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang noch einmal das großartige Video zu | |
„Lick in Heaven“ von Lanzas letztem regulären Album „All the Time“ (20… | |
anzuschauen. In einer fiktionalen Morgensendung aus ihrem kanadischen | |
Heimatstaat Ontario gibt Lanza darin die am Bühnenrand platzierte | |
Alleinunterhalterin, zu der das Studiopublikum zwischen Unbeholfenheit und | |
Ekstase schwankend tanzen muss. | |
[2][Auch dieser Song ist ein brillanter, an 80er-Jahre-R&B-Diven wie Paula | |
Abdul und Janet Jackson geschulter Hit –] dreht sich aber inhaltlich um | |
unkontrollierbare Wutausbrüche. | |
Am unmittelbarsten verhandelt die Musik des neuen Albums solche | |
Widersprüche zwischen Form und Inhalt im drastisch betitelten „I Hate | |
Myself“. An dessen Beginn steht ein dräuender Ton, der schließlich | |
wegschlingert und sich unvermittelt in einen halluzinatorischen | |
Tropical-Beat mit schwebenden Synthie-Flächen und gemütlicher Bassline | |
auflöst. „I hate myself“, wiederholt die 38-Jährige immer wieder in der | |
Gesangslinie und hustet im Refrain ein sarkastisches „You’re so cool“. | |
Der an misanthropische Grunge-Hymnen der 90er Jahre erinnernde Text | |
verleiht der sanften Musik eine unheimliche Note, und auch Lanzas Stimme | |
kommt hier mit einer ansonsten bei ihr selten zu hörenden Wertung daher. So | |
subtil solche Einfärbungen auch sein mögen, lassen sie „Love Hallucination�… | |
als das bisher persönlichste Album der Musikerin erscheinen. Ursprünglich | |
hatte sie die elf darauf enthaltenen Tracks für andere Interpret:Innen | |
komponiert, entschied sich aber während der Produktion dafür, sie doch | |
selbst zu veröffentlichen. | |
## Ätherische Vocals und Hochglanzproduktion | |
Für ihre gemeinsam mit dem ebenfalls aus Kanada stammenden | |
Synthpop-Produzenten Jeremy Greenspan produzierte Mischung aus House, R&B | |
und 90er-Jahre-Soul wurde Lanza schon bei Erscheinen ihres Debütalbums | |
„Pull My Hair Back“ (2013) als großes Talent einer neuen Generation von | |
Solistinnen gehandelt, die ätherische Vocals mit Hochglanzproduktion und | |
für den Club gedachten Beats verbanden. Das Album erschien beim | |
renommierten Londoner Elektroniklabel Hyperdub, mit dem Lanza seit Beginn | |
ihrer Karriere verbunden ist. | |
Seinen Ursprüngen in der englischen Dubstep-Szene längst entwachsen, ist | |
Hyperdub für seine experimentellen elektronischen Veröffentlichungen von | |
Künstlerinnen und Künstlern wie Fatima Al Qadiri, Burial und Laurel Halo | |
bekannt. Für den großen Popwurf anscheinend zu eigenwillig, nimmt Lanza mit | |
ihrer R&B-Affinität innerhalb [3][des Hyperdub-Label-Portfolios eine | |
wiederum umgekehrte Randposition ein]. In ihren Alben lässt sich eine | |
musikalische Entwicklung nachverfolgen, die von den verhallteren Anfängen | |
bis zum aktuellen direkten Sound reicht. | |
Die lange Form war Lanzas Sache nie, und auf „Love Hallucination“ erreichen | |
nur noch zwei Tracks überhaupt die Vier-Minuten-Marke. In dieser Dichte | |
knüpft das Album an Lanzas Beitrag zur populären „DJ-Kicks“-Reihe an. 2021 | |
remixte sie dafür House und Techno-Tracks zum energischen Set, auch das | |
geradlinige „Drive“ vom neuen Album würde gut dazu passen. | |
Auf Albumlänge wird „Love Hallucination“ seinem Titel gerecht und fügt | |
[4][sich nahtlos in Lanzas musikalisches Universum ein, dessen | |
federleichte, sinnliche Ästhetik immer wieder ins Nebulöse kippt.] In den | |
Details jedoch verstecken sich zahllose schlaue Genreanspielungen, | |
Soundspielereien und harmonische Überraschungen, die die studierte | |
Jazzmusikerin wie beiläufig einstreut. | |
## Analoge Klangerzeuger und klassisches Songwriting | |
Aufgewachsen in einem musikalischen Elternhaus in der Industriestadt | |
Hamilton, erbte Lanza Synthesizer und Drumcomputer ihres Vaters und | |
kombiniert seither ihre Leidenschaft für R&B mit ihrer Begeisterung für | |
analoge Klangerzeuger und klassisches Songwriting. | |
Da ist etwa das frickelige „Big Pink Rose“, das seine stolpernde Rhythmik | |
mit einem warmen Synthesizerbad tarnt und es schafft, zugleich nostalgisch | |
und amtlich zu klingen. „I don’t want wanna go outsid / No no I don’t wan… | |
do that“, singt Lanza dazu mit fast kindlich wirkendem Timbre. Themen wie | |
Selbstbeherrschung und gezügelter Groll („on and on I wanna scream“) werden | |
auch hier wieder angedeutet, ohne dass Lanzas kontrollierte Haltung davon | |
beeinflusst würde. | |
Überhaupt wirken ihre Anspielungen auf negative Emotionen nie als | |
Verbitterung oder plakativer Leidensdruck. Das zusammen mit Jacques Greene | |
produzierte Beziehungsdrama „Midnight Ontario“ etwa kommt als wattierter | |
Neo-Soulsong daher. Über seinen 2-Step-Breakbeat kippt Lanzas Stimme immer | |
wieder ins Falsett. Komplex und tanzbar zugleich ist „Don’t Cry on My | |
Pillow“, eine erneute Zusammenarbeit mit Jeremy Greenspan. | |
## Flimmernde Synthesizern über basslastigem Beat | |
Zu guter Letzt enthält das Album mit „Limbo“ einen faustdicken Sommerhit | |
für die erwähnte perfekte Popwelt, in der sich Sängerinnen hinter Bäumen | |
verstecken oder gar wütend sein dürfen. Sein Sound beginnt im besten | |
Lanza-Stil mit einer einprägsamen Gesangsmelodie und flimmernden | |
Synthesizern über einem basslastigen Beat, ehe daraus plötzlich eine | |
Diskonummer mit Funk-Basslinie und Ohrwurm-Refrain wird. | |
Das dazugehörige Video verzichtet – auch da bleibt Lanza sich treu – auf | |
alle visuellen Klischees, die sich beim Hören aufdrängen. Zu sehen ist eine | |
statische Aufnahme von Lanzas Nachbar Conrad, der im Fetisch-Outfit vor | |
seiner Webcam turnt und damit, so die Produzentin selbst, die Themen des | |
Tracks perfekt verkörpert. Jessy Lanza erzählt von Schwebezuständen, von | |
eigenen Unklarheiten und inneren Kämpfen und schlägt musikalisch eine | |
andere, optimistischere Lesart vor. | |
Wie der Tänzer am Ende aus dem Bild krabbelt und das leere Zimmer mit | |
Kaminfeuer- und Ikea-Gemütlichkeit zurücklässt, lässt wieder an Lanza auf | |
dem Gerüst in der Palme denken. Ihr doppelbödiges Spiel mit romantischen | |
Bildern und ihrer gleichzeitigen sanften Demontage wird auf „Love | |
Hallucination“ zu einem so souveränen wie persönlichen Popentwurf erhoben, | |
zu dem man – und das ist das Beste – auch noch tanzen kann. | |
23 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jana Sotzko | |
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