Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Neues Elektronikalbum von Creep Show: Nah am jähen Abgrund
> Die Tracks sind spröde bis hitverdächtig. Über die
> britisch-US-amerikanische Band Creep Show und ihr teuflisch gutes
> Elektronikalbum „Yawning Abyss“.
Bild: Das sind sie: die Retroavangardisten von Creep Show
Schöner lässt sich kaum dem Untergang entgegentänzeln als zu [1][„Yawning
Abyss“, dem groovenden Titeltrack aus dem gleichnamigen Album] des
britisch-amerikanischen Bandprojekts Creep Show: Flummiartige Beats
schaffen zum Auftakt eine ungeduldige Spannung, bis John Grants samtige
Stimme zum Engtanz am titelgebenden Abgrund verführt: „Come jump with me
into the maw of the great yawning abyss / Don’t be silly now, you know
you’ve always wanted this.“
Fast wie [2][George Michael] klingt der in Michigan und Colorado
aufgewachsene, inzwischen in Island beheimatete Sänger und Songwriter in
diesem Song. Nach dem Ende seiner Indieband The Czars hatte der heute
55-jährige Grant sein großartiges [3][Solodebüt „Queen of Denmark“] (201…
mit der Folkrockcombo Midlake eingespielt. Seither hat er sich jedoch,
sowohl in seinem Solowerk als auch in vielen Kollaborationen, in Richtung
Elektronik bewegt – was einen Kontrast schafft, der seine warme
Baritonstimme noch unvermittelter ins Herz fahren lässt.
Von dieser Spannung profitiert auch „Yawning Abyss“, das zweite Album, das
Grant mit Stephen „Mal“ Mallinders schräger Elektronikpopband Wrangler
veröffentlicht hat; zusammen sind sie Creep Show. Neben Mallinder, der als
Mitglied der Sheffielder Band [4][Cabaret Voltaire Pionierarbeit in Sachen
experimenteller Elektronik leistete], gehören Phill Winter (Tunng, Lone
Taxidermist) und der Producer Ben „Benge“ Edwards dazu.
Dass Mallinder schon in den frühen 1970ern Sounds kreierte, für die die
Welt seinerzeit noch nicht bereit war – bei einem Cabaret-Voltaire-Konzert
1976 wurde Mallinder von einem erbosten Fan, der lieber Rockmusik hören
wollte, am Rückenwirbel verletzt –, scheint auch bei Creep Show durch; für
Proto- elektronikbands wie Depeche Mode, aber auch die Entstehung von
Housesound war das Werk von Cabaret Voltaire allerdings zentraler
Impulsgeber. Trotz Retroanmutung klingt die Musik von Creep Show sehr
frisch.
## Das Aufnahmestudio in Cornwall
Und dazu leidenschaftlich detailverliebt, was wohl dem Produzenten Benge
zuzuschreiben ist. Dessen MemeTune-Studio, mit dem er vor einigen Jahren
aus London ins ländlichen Cornwall umzog, ist vollgepackt mit
Vintagesynthesizern (denen er auch schon diverse Konzeptalben gewidmet
hat).
Bei einem Talk im Londoner Plattenladen Rough Trade, als Mallinder und
Grant zum Release aus dem Nähkästchen plauderten, schreckt Grant, der in
seinem Lebens schon mit etlichen Dämonen zu kämpfen hatte, nicht vor
großen Worten zurück: Gerade erst habe er seiner Schwester erzählt, sie
solle sich dieses Studio in Cornwall als den Ort vorstellen, an dem er in
seinem Leben am glücklichsten gewesen sei.
Auch sein vorletztes Soloalbum „Love Is Magic“ (2018) hatte Grant mit Benge
dort aufgenommen. „Yawning Abyss“ strahlt eine bemerkenswerte Verspieltheit
aus. Ihr Debütalbum „Mr Dynamite“ (2018), beschrieben Creep Show als
„Kirmesfahrt in die düsteren Ecken einer Welt, die kurz davor steht,
endgültig durch den Fleischwolf gedreht zu werden“. Das neue Album wirkt
etwas schalkhafter: Avantgarde und Popappeal finden in funky Elektropop
zusammen. Und auch wenn sich in den letzten fünf Jahren in der Welt da
draußen wenig zum Besseren gewendet hat, wirkt ihr Blick in den Abgrund
diesmal optimistischer. Oder zumindest amüsiert fatalistisch.
Atmosphärisch breiter aufgestellt, sind die Tracks spröde bis
hitverdächtig. Eingerahmt ist die surreal anmutende Funkiness vom düsteren
Stomper [5][„The Bellows“] („You are complicit / But you still do not get
it“); im letzten Track, dem Kraftwerk-artigen [6][„The Bellows Reprise“],
wird sie nochmals aufgegriffen. Und beim schnippischen [7][„Money Back“]
will man gleich beim ersten Hören den eingängigen Refrain des
Kryptowährungsdealers mitsingen: „You want your money back? I don’t think
so“. Selbst schuld, wenn man nach den Spielregeln des Spätkapitalismus
seine Schäfchen ins Trockene bringen will.
## Spannungsfeld: Mensch – Maschine
Hatten Creep Show auf dem Vorgänger die Stimmen von Grant und Mallinder
noch so stark bearbeitet, dass sie kaum zu unterscheiden waren, lebt das
Nachfolgealbum stärker vom Spannungsfeld zwischen Mensch und Maschine;
Grants teils unmodifizierter Stimme und Mallinders Versuchen, sich
stimmlich einem Roboter anzuverwandeln, stehen knarzend kühlen Beats
gegenüber.
Interessanterweise funktionieren trotz der akkumulierten Nerd-Manpower
in dieser Band die konventionelleren Tracks am besten: immer dann, wenn
Grant sein Talent zum Crooning voll ausleben kann. Neben erwähntem
Titeltrack ist das vor allem der jazzloungige Song [8][„Bungalow“]. Der
schafft in wenigen Takten voller Moodiness und mit Zeilen wie „Streamlined
silhouette, traces of cologne and smoke“ eine Hollywood-Noir-Atmosphäre wie
in einem David-Lynch-Film.
6 Aug 2023
## LINKS
[1] https://creep-show.bandcamp.com/album/yawning-abyss
[2] /Nachruf-auf-George-Michael/!5365538
[3] /!5548394/
[4] /Techno-von-Cabaret-Voltaire/!5054435
[5] https://creep-show.bandcamp.com/track/the-bellows
[6] https://creep-show.bandcamp.com/track/the-bellows-reprise
[7] https://creep-show.bandcamp.com/track/moneyback
[8] https://creep-show.bandcamp.com/track/bungalow
## AUTOREN
Stephanie Grimm
## TAGS
elektronische Musik
Neues Album
Großbritannien
Avantgarde
taz Plan
taz Plan
Synthie-Pop
Musikgeschichte
taz Plan
## ARTIKEL ZUM THEMA
Konzerttipps für Berlin: Kein Frontalunterricht
Der Monat der Zeitgenössischen Musik beginnt. Wie auch beim Panke Parcours
und dem Festival für selbstgebaute Musik geht es viel um das Experiment.
Neue Musik aus Berlin: Neu auf Sendung
Tellavison ist jetzt Tell A Vision – und so heißt auch das sechste Album
von Fee Kürten, die sich diesmal in Richtung HipHop und Spoken Word bewegt.
Neues Elektronikalbum von Jessy Lanza: Dancefloor mit doppeltem Boden
Die Musik der kanadischen Elektronikproduzentin Jessy Lanza ist ambivalent,
aber sexy. Ihr Album „Love Hallucination“ ist ihr bisher persönlichstes.
Historiker zu Klang und Ideologie: „Naturwissenschaften sind Kultur“
US-Technikhistoriker Myles W. Jackson über Stimmgabeln im 19. Jahrhundert
und die bizarre Karriere des Trautoniums, das in den 1920ern erfunden
wurde.
Neue Musik aus Berlin: Auf schlingernden Umlaufbahnen
Auf „Parallax“, dem dritten Album von João Orecchia und Sicker Man, treffen
alte Synthies auf Freejazz-Elemente und gesteigerte Abstraktion.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.